© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/98 19. Juni 1998

 
 
Kriminalität: Der Staat verliert an Bedeutung
Die neue Gewalt
von Alain de Benoist

Seit drei Jahrhunderten hat die Stadt das Verbrechen gezüchtet. Heute explodiert eine neue Gewalt an den Rändern der großen Metropolen. Das bestätigt ein Bericht, der kürzlich dem französischen Innenminister Jean-Pierre Chevènement übergeben worden ist. Er zeigt, daß die Täter heute immer jünger werden, daß sie immer öfter rückfällig und immer öfter gewalttätig werden. Gewaltverbrechen wie Raub, schwere Sachbeschädigungen, Übergriffe in öffentlichen Verkehrsmitteln, Brandstiftungen und bewaffnete Angriffe, Erpressung, Zusammenstöße zwischen rivalisierenden Banden steigen unaufhörlich an.

Diese Kriminalität erklärt sich nicht nur, wie man es allzu oft hört, aus der Jugendarbeitslosigkeit. Sie resultiert aus einem Zusammentreffen mehrerer Faktoren. Vor allem aus einer zu schnellen, zu massiven und zu unkontrollierten Einwanderung. Schließlich aus einer radikalen Krise der sozialen Bindungen. Alle klassischen Mittel der industriegesellschaftlichen Integration – nicht nur die Arbeit, sondern auch die Kirchen, die Vereine oder die Klassensolidarität – sind heute zerbrochen. Die Daseinsberechtigung der Familie wird immer weniger wahrnehmbar in einer Welt, in der elementare Zusammengehörigkeiten mehr und mehr auf den Staat übertragen worden sind. Die Familie ist nicht mehr der Prüfstein des Gemeinschaftlichen, der sie einst war. Ihr Auseinanderbersten ist der Bruch der Generationen als Teile einer Kette. Die häufiger werdende Einelternfamilie schafft Raum ohne Präsenz und oft ohne Bezugspunkt. Gleichzeitig erzeugt eine Unzahl von Konsumprodukten den Wunsch, diese zu besitzen, und eine Atmosphäre der sofortigen Befriedigung dieser Wünsche. Mehr noch als das Fernsehen schafft die virtuelle Welt den Jüngeren mehr und mehr die Möglichkeit in einem Paralleluniversum zu leben, das realer ist als die Realität, wo die Taten – selbst die mörderischsten – ohne irgendeine Konsequenz bleiben.

Die Kriminalität ist nicht erst gestern entstanden, aber es ist nicht übertrieben, wenn man von einer neuen Gewalt spricht. Die neue Tatsache ist der Übergang der Kriminalität in ein Phänomen der sozialen Äußerung. Die Gewalt ist nicht mehr so sehr ein Mittel, um sich illegal in den Besitz einer Sache zu setzen, sondern eine Lebensart, ein Lebensgefühl. Dieses Lebensgefühl bildet sich im Zusammenhang mit einer Wiederkehr stammesartiger Zusammenhalte und einem Territorium, das den einzigen Horizont der Gruppe bildet und in das einzudringen von der Gruppe sofort abgewehrt wird. Sie funktioniert auf der Grundlage von Zeichen der Wiedererkennung ohne großen ideologischen Inhalt, die aber den Wert von Überlebensnormen haben. In die staatliche Ordnung ist eine Bresche geschlagen, schlicht deshalb, weil sie zu dieser Wirklichkeit in keinem Zusammenhang mehr steht.

Max Weber hat den Staat als Inhaber des legitimen Gewaltmonopols definiert. Dieses Monopol wird heute in Frage gestellt, von oben wie von unten. Unten von Schattenwirtschaft und neuer Gewalt, oben von der Entstaatlichung durch grenzüberschreitende Kriminalität von multinationalen Organisationen.

Der Vergleich ist nicht übertrieben. Banken, Offshore-Holdings, verborgene Finanzierungskanäle, Steuerflucht, Bilanzmanipulationen: man gerät heute mehr und mehr in Schwierigkeiten, kriminelle Aktivitäten vom täglichen Kapitalismus zu unterscheiden. Jedes Jahr werden 320 Milliarden US-Dollar aus verschiedensten Quellen von einem internationalen Bankennetz "gewaschen". In Rußland wurde der Kommunismus durch einen völlig entfesselten Kapitalismus abgelöst, in dessen Schatten sich neue Mafias verbunden mit "Geschäftsleute" genannten, offensichtlichen oder mutmaßlichen Gangstern entwickeln. Diese verfügen über Mittel, die diejenigen manches souveränen Landes übersteigen. Angeführt von wahrhaften Kriegsherren, die sich einer beispiellosen Gewalttätigkeit bedienen, können sie sich ganze nationale Wirtschaftsräume unterwerfen. Man rechnet, daß es in Rußland heute etwa 5.700 organisierte kriminelle Kartelle gibt. Weltweit wird der Rohertrag krimineller Aktivitäten auf 800 Milliarden US-Dollar jährlich geschätzt. Das ist doppelt soviel wie der jährliche Staatshaushalt von Frankreich.

Auch die internationalen Konflikte brechen immer mehr aus staatlicher Begrenztheit aus und nehmen Formen der neuen Gewalt an. Politisch-religiöse Bewegungen, Guerilla, Terrorismus und nicht zuletzt Privatkriege der internationalen Drogensyndikate sind dafür ein Zeichen.

Die klassische Dichotomie zwischen innerer Sicherheit und äußerem Feind wird zunehmend inhaltsleer. Armee und Polizei haben es immer öfter mit demselben Feind zu tun, während der Staat immer unfähiger wird, allein mit den Gefahren übernationaler Gebilde fertig zu werden. Auch dies ein Aspekt des "globalen Dorfes".


 
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