© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/98 19. Juni 1998

 
 
Untaten des Kommunismus: Ein ehemaliger "Bautzener" über die Arbeit der Opferverbände
"Wir fühlen uns zurückgesetzt"
von Peter Krause

 

Herr Becker, was bedeutet Bautzen für Sie?

BECKER: Ich wurde Heiligabend 1947 nach Bautzen I, ins "Gelbe Elend" eingeliefert. Wir Neuen mußten uns ausziehen, mit dem Gesicht an die Wand stellen. Dann wurden wir von Sowjetsoldaten mit Gummiknüppeln geprügelt, ungefähr 15 Minuten lang. Das war der erste Eindruck… Bis Januar 1950 war das Speziallager der Sowjets mit etwa 7.700 Personen belegt. Davon wurden Anfang 1950 2.300 entlassen. Bis dahin waren mindestens 3.533 umgekommen. Die Namen sind bekannt.

 

Weiß man, wie viele Menschen insgesamt in Bautzen starben?

BECKER: Nicht genau, aber es waren weit mehr als 3.533. Die Forschung ist nicht abgeschlossen. Die Toten wurden hinter der Haftanstalt auf dem Karnickelberg in Massengräbern verscharrt. 1992 wurden mit Hilfe der Kriegsgräberfürsorge und der Bundeswehr 289 Skelette geborgen und auf dem jetzigen Gedenkfriedhof "Karnickelberg" beigesetzt.

 

Berichten Sie bitte von Ihrer Zeit in Bautzen.

BECKER: Im Februar 1950 wurde das Speziallager der DDR übergeben. Wir waren von der Sowjetmacht verurteilt worden und hofften nun auf Freilassung. Der neue Anstaltsleiter, Oberrat Schultze, genannt Hundeschultze, weil er immer einen scharfen Schäferhund bei sich führte, gab uns aber keine klare Antwort. Da der Oberrat für uns nicht mehr zu sprechen war, planten wir einen Aufstand. Am 31. März 1950 begann der Streik. Wir öffneten die Fenster der acht Säle, die mit bis zu 400 Personen gefüllt waren, und riefen im Chor: "Wir fordern das Deutsche Rote Kreuz!" Auch die Zelleninsassen der Häuser 1, 2 und 3 sowie der Innenbaracken beteiligten sich. Nach zehn Minuten marschierten Sowjetsoldaten und Volkspolizisten mit Karabinern im Anschlag auf. Zusätzlich wurde mit Feuerwehrschläuchen in unsere Fenster gespritzt. Es dauerte nicht lange, da mußten wir die Säle nacheinander räumen. 60 Volkspolizisten mit Stahlruten bauten sich im Mittelgang auf, und wir mußten Spießruten laufen. Hundeschultze rief: "Jetzt bekommt ihr das Rote Kreuz!" Ein Hauptwachtmeister schrie: "Immer drauf auf die Köpfe, damit sie blöd werden!" Dem Befehl kamen die Polizisten auch kräftig nach. Ich brach am Ende des Ganges besinnungsloszusammen. Erst nach zwei Tagen wurde ich ins Haftkrankenhaus eingeliefert. Sie hatten mir die Schädeldecke eingeschlagen.

 

Wann sind Sie entlassen worden?

BECKER: Im September 1956. Die Stasi versuchte mich zu überreden, in der DDR zu bleiben. Man versuchte – oft unter Androhung weiterer Strafe –, die Häftlinge nicht in den Westen zu lassen. Aber ich wollte nach Hause, meine Mutter war während meiner Haftzeit verstorben. Ich kam mit einem Gewicht von 49 Kilo in Braunschweig an.

 

Wie kam es zur Gründung des Opferverbandes, dem Sie jetzt vorstehen?

BECKER: Nach meiner Entlassung mußte ich feststellen, daß es schwierig war, sich im Dschungel der Anträge zurechtzufinden. Um sich gegenseitig zu helfen, auch aus Kameradschaft trafen sich im Januar 1957 sieben ehemalige politische Häftlinge, um den "Verband politischer Sowjetgefangener" zu gründen, der sich 1990 umbenannt hat in "Verband politischer Häftlinge des Stalinismus". Seit 1994 gehören wir zur "Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft" (UOKG).

 

Wieviele Opferverbände gibt es?

BECKER: Im Dachverbad UOKG sind 18 selbständige Verbände politischer Häftlinge des Stalinismus-Kommunismus. Mitglieder sind unter anderem Inhaftierte der NKWD-Speziallager, damalige Mitglieder der SPD sowie politische Häftlinge der DDR. Wegen dieser vielen Verbände bilden wir keine so einheitliche Interessenvertretung, wie sie etwa die Verfolgten des Nationalsozialismus besitzen. Die UOKG ist aber ein Schritt, die Kräfte zu bündeln. Doch daneben gibt es noch die VOS: "Verfolgte Opfer des Stalinismus", ein Verband, der unserer Union nicht beigetreten ist. Politische Gründe für die Uneinheitlichkeit gibt es nicht. Die vom Bundestag beschlossene "Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur", an deren Entwicklung die UOKG beteiligt ist, könnte aber den Zusammenschluß der Opferverbände befördern.

 

Worin besteht die Aufgabe Ihres Verbandes?

BECKER: Da ist nach wie vor zunächst eine praktische. Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft werden seit 1992 laut "SED-Unrechtsbereinigungsgesetzen" entschädigt: das erste Gesetz regelt die strafrechtliche Rehabilitierung und die Entschädigung für die Haft, Unterstützungs- und Versorgungsleistungen für haftbedingte Gesundheitsschäden. Das zweite Gesetz beinhaltet die berufliche Rehabilitierung. Wir beraten und setzen uns ein: für Mitglieder, wozu oft die Hinterbliebenen gehören, auch für Personen, die nicht Mitglied im Verband sind. Wir organisieren Fahrten, laden zu Informationsveranstaltungen und treffen uns zu Feiern.

 

Wer gilt als ehemaliger politischer Häftling des Kommunismus?

BECKER: Alle, die entweder die 10/4-Bescheinigung nach dem Häftlingshilfegesetz haben, die bis Ende 1994 von Betroffenen beantragt werden konnte, oder diejenigen, die eine Rehabilitierung vom zuständigen Landgericht, wo sie verurteilt worden waren, nach Antrag erhalten haben.

 

Dann fällt also die große Gruppe der ab 1945 in die Sowjetunion Verschleppten heraus?

BECKER: Das ist eine große Ungerechtigkeit. Wir haben bei uns beispielsweise ein Mitglied, das 20 Jahre in Nordrußland und Sibirien war. Die Frau, die 1945 aus Ostpreußen verschleppt wurde und Schlimmstes erlebt hat, wird nach Häftlingshilfegesetz entschädigt, da sie nicht im "Beitrittgebiet", der früheren SBZ bzw. DDR, verhaftet worden war. Sie hat für jeden Monat in den Arbeitslagern gerade 64,25 DM Entschädigung erhalten. Und die Verschleppten, die in die DDR entlassen worden sind, erhalten bis heute überhaupt keine Entschädigung. Der wegen der Maueropfer angeklagte Herr Stoph dagegen, ehemaliger Vorsitzender des Staatsrates der DDR, erhielt 1992 Haftverschonung: der Mann saß in einem komfortablen Gefängnis und erhält pro Haftmonat 600 DM Entschädigung.

 

Sie fühlen sich nicht ausreichend anerkannt?

BECKER: Schauen Sie, wir sind zum Beispiel heute schlechter gestellt als die Verfolgten des Nationalsozialismus. Beide Opfergruppen wurden gedemütigt und seelisch gequält. Das lange Leben unter menschenunwürdigen Bedingungen und Todesangst hat bei vielen Inhaftierten einen Persönlichkeitswandel bewirkt. Viele leiden an posttraumatischen seelischen Störungen. Eine statistische Untersuchung zeigt, daß etwa 80 Prozent der Anträge auf psychischen Gesundheitsschaden von den Opfern der NS-Diktatur, aber nur zwei Prozent ähnlicher Anträge von Opfern des Kommunismus anerkannt worden sind. Zwei Prozent von 100.000 anerkannten Opfern! Auch werden die NS-Verfolgten nach dem Bundesentschädigungsgesetz beurteilt, wir nach dem Bundesversorgungsgesetz, was bedeutet, daß wir jeden in der Haft erlittenen Schaden beweisen müssen. Bei NS-Opfern wird dagegen ein Anspruch auf Versorgungsrente vermutet, so der Betreffende mindestens ein Jahr im KZ gesessen hat und die Erwerbsfähigkeit heute um 25 Prozent gemindert ist.

 

Sind alle Opfer des Stalinismus unschuldig?

BECKER: Soweit sie in der SBZ oder der DDR verurteilt worden sind, weil sie gegen das kommunistische Regime gekämpft haben, sind sie politische Opfer eines Unrechtssystems. Das wurde und wird alles sehr genau geprüft. Aber Ihre Frage zielt vermutlich auf Funktionäre des NS-Regimes. Auch hier wurde genau untersucht. Wenn etwa ein Ortsgruppenleiter oder ein Hitlerjunge 1950 zu 25 Jahren Arbeitserziehungslager verurteilt wurde, dann muß man sich allerdings fragen, in welchem Verhältnis das zu seiner individuellen Schuld steht. Alle Personen, die über die 10/4-Bescheinigung oder über die gerichtliche Rehabilitierung verfügen, sind Opfer des Kommunismus und somit unschuldig. Andere Personen werden bei uns nicht aufgenommen.

 

Worauf führen Sie die Tendenz zurück, die Verbrechen des Kommunismus kleinzureden?

BECKER: Es gibt eine Stimmung, die Opfer des Kommunismus zweitrangig zu behandeln. Wir fühlen uns zurückgesetzt. Es gibt einen Hang, die Verbrechen des Kommunismus zu relativieren und die Opfer als Wiedergutmachung für NS-Untaten zu betrachten.

 

Wie ist die Unterstützung durch die Politik?

BECKER: Sie könnte besser sein, obwohl wir in allen demokratischen Parteien Unterstützer haben. Manchmal verliert man aber den Glauben an die Gerechtigkeit. Und es geht keineswegs nur um das Geld. Es gibt zum Beispiel immer noch keinen öffentlichen Gedenktag für die Opfer des Kommunismus, keiner diskutiert über ein repräsentatives Denkmal nur für diese Opfer. Die Schönrednerei des Kommunismus, der Hang zum Verdrängen hat wohl auch damit zu tun, daß einige westdeutsche Politiker mit der DDR-Regierung gut zurechtkamen: und das waren nicht nur Linke und Sozialdemokraten, sondern auch einige aus der Union. Und die wollen nicht, daß das ins öffentliche Bewußtsein rückt. Auch die Täter, welche sich zum Teil in der PDS befinden, haben bisher kein Wort des Bedauerns ausgesprochen oder die kommunistischen Verbrechen verurteilt. Für uns ehemalige Häftlinge kann die PDS keine demokratische Partei sein. Vielleicht wird die Stiftung etwas Gerechtigkeit bringen.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen