© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/98 19. Juni 1998

 
 
Der 17. Juni in Ost-Berlin: Vor 45 Jahren scheiterte der Arbeiteraufstand
Ein Bild, drei Schicksale
von Kai Guleikoff

Als Tag der deutschen Einheit war er Staatsfeiertag in Deutschland; mit den Jahren einer sich scheinbar festigenden Zweistaatlichkeit nahm das Interesse der Öffentlichkeit stetig ab. Lediglich als ein zusätzlicher Feiertag war der 17. Juni der Bevölkerungsmehrheit willkommen, um ins Grüne zu fahren oder Verwandte zu besuchen. Zur Wendezeit 1989/90 kam noch einmal die Diskussion auf, diesen Tag zum Nationalfeiertag aller Deutschen zu erklären. Ergebnis war, daß der 17. Juni als Feiertag ganz gestrichen wurde.

Bis heute gibt es so gut wie keine Gedenk- und Erinnerungsstätten in den 272 Streikorten Mitteldeutschlands. Unvergessen können diese Tage zwischen dem 16. und 20. Juni 1953 jedoch nicht gemacht werden. Immerhin streikten wenigstens 300.000 von etwa 5,5 Millionen Arbeitnehmern so aufsehenerregend, daß in 167 von 217 Kreisen der damaligen DDR der Ausnahmezustand verhängt werden mußte.

Berühmtes Foto aus der Leipziger Straße in Berlin

Die Bilder dieser Streiktage sind entweder vorwiegend von Amateuren aufgenommen worden oder von Dienststellen der DDR und der sowjetischen Besatzungsmacht. (Letztere sind bis heute noch nicht vollständig der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden.) Ein Bild machte von seinem Symbolcharakter her im Sinne des Wortes "Geschichte". In der Bildunterschrift der Agenturen wird noch heute von "Arbeitern" gesprochen, die sich mit "Steinen der Panzer" erwehren, ganz im Gleichnis "David gegen Goliath".

Der Fotograf hielt sich bis zum staatlichen Ende der DDR ebenso bedeckt wie die handelnden Personen dieses berühmt gewordenen Bildes. Im Gegensatz zur Identität des Bildautors wurden die der beiden jungen Männer nach Veröffentlichung in Zeitungen namentlich ermittelt. Beide wurden von der DDR-Volkspolizei verhaftet. Sie leben heute noch – doch nicht in Deutschland. Links im Bild der damals 19 Jahre junge Jochen Maitre, neben ihm Erwin Kalisch, auch erst im 22. Lebensjahr stehend. Wenige Schritte hinter ihnen stand der Fotograf: Wolfgang Albrecht.

Auf sie fuhren zwei sowjetische Panzer des Typs T-34 zu, jeweils bewaffnet mit einer 85-mm-Kanone und zwei Maschinengewehren im Kaliber 7,62 mm. Zu diesem Zeitpunkt, etwa 13 Uhr am 17. Juni 1953, hatten die 5-Mann-Besatzungen bereits Feuerbefehl erhalten. Der Militärkommandant des sowjetischen Sektors von Berlin, Generalmajor Pawel T. Dibrowa, hatte den Ausnahmezustand über Ost-Berlin verhängt. Der DDR-Sicherheitsapparat befand sich in Auflösung. Hunderte Volkspolizisten waren nach West-Berlin geflohen, durch Demonstranten entwaffnet worden oder hatten sich unter Zurücklassung von Uniform und Ausrüstung unter die Streikenden gemischt. Dibrowa drohte am Potsdamer Platz selber in "Gefangenschaft" zu geraten, als er vom Panzer herab die aufgebrachte Menschenmenge zu "überzeugen" suchte.

Der Schnappschuß von Wolfgang Albrecht hält die Situation fest: als 40 Sowjetpanzer durch die Leipziger Straße in Richtung Potsdamer Platz rasseln, um die vor ihnen fliehenden Menschen über die Sektorengrenze abzudrängen. Die ohne Begleitinfanterie vorrollenden Panzer werden teilweise scharf attackiert. Mit Todesverachtung versuchen Demonstranten die Laufwerke mit Eisenstangen und Holzbalken zu blockieren. Die so bewegungsunfähig gemachten Fahrzeuge können dann leicht an der heißen Motorabdeckung im Heckteil in Brand gesetzt werden. Die Illustrierte Berliner Zeitschrift (IBZ) zeigt auf der Titelseite der Ausgabe 26, 4.Juni-Heft 1953, einen lichterloh brennenden T-34 in unmittelbarer Nähe der Sektorengrenze Potsdamer Platz. Ähnliche Bilder werden Jahre später aus Budapest (1956) und Prag (1968) zu sehen sein.

Der Wahrheit zuliebe muß gesagt werden, daß sich in diesen Ausnahmesituationen auch der "soziale Bodensatz" jeder Gesellschaft aufgerufen fühlt. Plünderungen, Brandstiftungen, Körperverletzungen aus krimineller Energie heraus und zur persönliche Vorteilsnahme und Abrechnung geschehen nicht als "Wille des Volkes". Der Dramatiker Bertolt Brecht sah sich angesichts solcher Bilder an die "Kristallnacht" der Nationalsozialisten erinnert. Doch Ursache und Wirkung sollen nicht vermengt werden. Reparationen, Normendruck und sinkender Lebensstandard der Mehrheit in Ost-Berlin und der DDR trieben die Bürger auf die Straße und zu verzweifelten Handlungen. Maitre sagte später auf das berühmte Bild verweisend: "Einen T-34 mit Steinen anzugreifen, ist ein Dummerjungenstreich, sinnlos sogar als Geste." Nachbetrachtungen fallen jedoch häufig abgeklärt aus.

Mit Ziegelsteinen gegen 32 Tonnen Stahl

Interessant sind die Biografien von Maitre und Kalisch. Hans Joachim Maitre war Mitarbeiter von Erich Honecker als FDJ-Sekretär der Stadt Bernau bei Berlin. Er fühlte sich als Deutscher, der nach dem verlorenen Krieg ein besseres Deutschland aufbauen wollte. Von Natur aus kräftig, anpackend und rauflustig, sah Honecker in ihm den idealen Mitarbeiter, um SED-Politik auch Widerspenstigen "beizubringen". Ernüchtert wurde Maitre an diesem 17. Juni, als FDJ-Chef Honecker seine Getreuen zu sich rief, um die neue ideologische "Linie" zu verkünden. Diese gipfelte in der Aussage, daß "uns mit Deutschland nun nichts mehr verbinde" und das Absingen der Nationalhymne Ausdruck reaktionärer Deutschtümelei sei. Der Anschluß an die Sowjetunion sei die Zukunft.

Maitre verließ den Zentralrat, bestieg sein Fahrrad und machte sich auf den Rückweg nach Bernau. Am Potsdamer Platz sah er die sowjetischen Panzer aus der Leipziger Straße heranrollen. Feuerstöße aus MGs waren zu hören, angstschreiende und hinfallende Demonstranten zu sehen. Das sollten nun seine "Brüder" sein, wie "Genosse Erich" forderte? Seine Antwort war Ziegelschutt gegen 32 Tonnen Stahl und 75 mm Frontpanzerung. Neben sich bemerkte er einen Mitstreiter, Erwin Kalisch, den Elektrikergesellen aus Hoppegarten, der Gemeinde mit der schönsten Naturrennbahn Deutschlands vor den Toren Berlins. Kalisch gehörte zu den legendären Bauarbeitern der Stalinallee, die im Block 40 bereits am 15. Juni die Arbeit niedergelegt hatten. An diesem Tag räumte Ulbricht öffentlich Fehler der Parteiführung ein: "Das Entwicklungstempo ist zu hoch geworden."

Am 17. Juni war er wie jeden Tag mit der S-Bahn zur Baustelle gefahren. Mit 40.000 Menschen stand er im strömenden Regen auf dem Strausberger Platz und war um 10 Uhr am Haus der Ministerien dabei, als die Regierenden sich hinter Fünferreihen der Volkspolizei verbergen mußten. Am Potsdamer Platz erlebte er die Besetzung des HO-Warenhauses im Columbushaus und die Flucht der achtköpfigen Polizeiwache unter weißen Fahnen nach West-Berlin. Gelächter brauste auf und Siegesstimmung griff um sich. Dann kamen die Panzer.

Einen Tag später wurden Maitre und Kalisch verhaftet. Albrechts Foto war Titelbild bei Ullstein, die Identifizierung der beiden dadurch schnell möglich gewesen. Bildverfremdungen wurden erst später in den Redaktionen durchgesetzt. Die Anklage reichte für das Standgericht. Maitre wurde durch sein hohes FDJ-Amt gerettet. Ein Jahr "Bewährung" in der NVA-Strafvollzugsanstalt Schwedt/Oder. Obwohl später zum Unteroffizier avanciert, floh er mit seinem 15 Mann starken Zug im Jahr 1954 nach Bayern; Maitre ist heute Professor in Boston, USA. Kalisch traf es ungleich härter: drei Wochen Spezialbehandlung beim sowjetischen NKWD in Berlin-Karlshorst. Danach drei Jahre verschärfte Haft beim MfS der DDR. Flucht erst im Jahr 1956 – bis nach Brasilien. Und Wolfgang Albrecht? Der hätte mit diesem einzigen Foto wohlhabend werden können. Doch er muß weiter fotografieren – bis heute. Drei Schicksale von 300. 000 des Jahres 1953 aus Deutschland.


 
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