© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/98 26. Juni 1998

 
 
Gewalt und Politik: Nach den Ausschreitungen während der Fußball-WM in Frankreich
Sind die Deutschen Krank?
von Dieter Stein

Der Ausbruch von brutaler Gewalt durch junge Deutsche bei der WM in Frankreich hat unser Land geschockt. DFB-Präsident Egidius Braun weinte vor Journalisten wegen der barbarischen Krawalle seiner Landsleute und erklärte, er wäre am liebsten abgehauen, "nach Hause", als er die Nachrichten erfahren habe. Bundestrainer Berti Vogts sagte: "Mir wäre es lieber, wir hätten gegen Jugoslawien verloren, dafür wäre der Polizeibeamte gesund." Politiker aller Parteien äußerten sich bestürzt: "Eine Schande für unser Land" (Kohl), "Was geschehen ist, ist unglaublich. Es verdunkelt das Bild Deutschlands." (Scharping).

Der französische Gendarm David Nevil (44) hatte während des Fußballspiels am vergangenen Sonntag in Lens Dienst geschoben. Als in den letzten zehn Spielminuten Oliver Bierhoff das Ausgleichstor zum 2:2 schießt, fliegen in Berlin Böller aus den Fenstern. In Lens kracht in dieser Sekunde ein von deutschen Hooligans geworfener Stuhl in eine Schaufensterscheibe. 250 deutsche Schläger liefern sich mit französischen Polizisten eine blutige Straßenschlacht. Auf ihrem Höhepunkt schlagen mehrere junge Deutsche auf den Beamten David Nevil mit einer Eisenstange ein. Unter ihren Tritten platzt der Helm, sein Schädel wird zertrümmert. Einer der mutmaßlichen Täter: Markus W., ein 27jähriger Hannoveraner. David Nevil wird mit Hirnschäden leben müssen, falls er überhaupt aus dem Koma erwacht. Was seine beiden Kinder über Deutsche denken werden? Markus W. bekennt: Sie seien keine Fußballfans, sie seien "deutsche Hools", die nach Lens gekommen seien, nicht, um das Spiel zu sehen, sondern um "Jugos zu verprügeln".

Die Bestürzung über die Ausschreitungen der jungen Deutschen in Frankreich ist ehrlich und Ausdruck nationaler Entrüstung. Wer sich über diese Reaktionen mokiert, der zeigt, wie distanziert sein Verhältnis zur Nation ist. Was Deutsche im Ausland anrichten, ist einem nicht gleichgültig.

Viele tausende deutsche Fußballbegeisterte bekennen sich bei der laufenden WM in sympathischer Weise zu ihrer Nationalmannschaft. Mit geschminkten Gesichtern, ausgefallenen Kostümen oder in Klamotten ihres heimischen Fußballclubs fiebern sie begeistert mit, daß "wir" gewinnen.

Tatsächlich kann einem aber oft der Gedanke an die Wiedereinführung der Prügelstrafe kommen, wenn man Deutsche im Ausland auftreten sieht. Sie müssen nicht erst zu Flasche, Eisenstange oder Baseballschläger greifen – sie sind eine Landplage, die von anderen Länder allein deshalb ertragen werden, weil sie Devisen mitbringen. Diese Invasion aufgeschwemmter, zur Kenntlichkeit entstellter Wohlstandstouristen, die kichernd und schreiend in Shorts, Hawaii-Hemden, Spiegelbrillen, Tennissocken und Birkenstocksandalen Kirchen und Museen wie Supermärkte stürmen, um Minuten später im "Ballermann" oder "Eiscafé Venezia" lärmend zu versacken. Nicht weit davon entfernt die servilen Schleimer, EU-Aufkleber auf dem Mercedes, den ungelesenen Baedecker in der Hand und sich mit gerümpfter Nase über das eigentümlich Provinzielle, das "Nationale" anderer Länder amüsierend und kulturelle Eigenständigkeiten milde belächelnd.

Im Falle von Lens verbietet es sich, auf die berüchtigte Gewalttätigkeit englischer Hooligans zu verweisen. Bei den Krawallen hatten wir es mit einer Gruppe von Gewalttätern zu tun, der es letztlich um Mord und Totschlag ging, und die ihre furchterregende Wirkung durch den Hitler-Gruß zu erhöhen versuchte. Die Mordbereitschaft dieser Gruppe ist in erster Linie ein strafrechtliches und gesellschaftliches Problem. Die NS-Symbolik hat keine politische Bedeutung. Eine andere Gruppe sind diejenigen, die in unserem Land aus einem falschverstandenen "Stolz auf Deutschland" oft gegenüber Schwächeren Gewaltbereitschaft demonstrieren. Hier reicht es nicht aus, sich von den Tätern zu distanzieren, wie es im Falle von Lens so einfach ist. Wer die Nation ernst nimmt, muß bereit sein, auf diejenigen zuzugehen, die das Ansehen der Nation mißbrauchen. Er muß ihnen mehr als Verbote und Drohungen entgegenhalten.

Was läuft in Deutschland schief, daß Jugendlichen ein positiver Halt fehlt? Liegt es vielleicht auch daran, daß uns so etwas wie ein nationales Ethos abhanden gekommen ist?


 
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