© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/98 26. Juni 1998

 
 
Grenze des Anderen
von Karlheinz Weissmann

Am Freitag, dem 5. Juni, fand im Berliner "Willy-Brandt-Haus" eine Veranstaltung des SPD-Kulturforums statt, zu deren prominentesten Rednern Gerhard Schröder und Jürgen Habermas gehörten. Der sozialdemokratische Kanzlerkandidat und der Staatsphilosoph der späten Bundesrepublik äußerten sich über "Die Einbeziehung des Anderen. Für eine inklusive Politik", wobei Schröder solche "Einbeziehung" harmloserweise auf den Nachbarn bezog und vor allem im Verein geübt wissen wollte, während Habermas grundsätzlicher an das Projekt Weltbürgertum dachte, von der künftigen Funktionstüchtigkeit der UNO und seinem neuen Lieblings-Projekt – einer "Charta" für Europa – sprach, um endlich die Grenzen bekannter Staatlichkeit überhaupt hinter sich zu lassen; die Frankfurter Allgemeine Zeitung zitierte ihn mit dem Satz: "Die hochartifiziellen Entstehungsbedingungen des nationalen Bewußtseins sprechen gegen die defätistische Annahme, daß sich eine staatsbürgerliche Solidarität unter Fremden nur in den Grenzen einer Nation herstellen kann."

Die Bestimmung der Nation als einer Vereinigung von "Fremden" hat einen gewissen Überraschungswert, erklärt sich aber unschwer aus dem besonderen Pathos, mit dem hier und an vielen Stellen über "das Andere" und "den Anderen" geredet wird. Es gibt schon seit einiger Zeit Kongresse zum Thema und Ausstellungen, die es problematisieren, es gibt das Andere und das nur scheinbar Andere im Exotischen, und es gibt das Andere im Bekannten und im nur scheinbar Bekannten, Autoren entdecken den Anderen in sich selbst und in uns anderen, und man könnte unschwer eine ganze Gattung von populären Filmen und Romanen über gestörte, gespaltene und multiple Persönlichkeiten in diesen Zusammenhang einordnen. Die Aufmerksamkeit für das Andere hängt sicherlich mit der modischen Vorstellung von der "Konstruktion" – der Individuen, der Zivilisationsformen, ihrer Religionen und Moralen – zusammen, die nach Meinung der sogenannten Kulturwissenschaften eigentlich gar keine Aussagen über das Andere mehr erlaubt, sondern nur noch ein Nebeneinander von "Diskursen". Man darf sich an der Fremdheit bloß kennerisch ergötzen und hält das Andere selbst dann noch auf Distanz, wenn Verstehen durchaus möglich wäre. Das wirkt zuerst wie eine Reaktion auf die großen (und gescheiterten) Erklärungsversprechen der Sozialwissenschaften und insofern begreiflich, hat aber auch etwas Hilfloses an sich, bedenkt man das objektive Verschwinden des Anderen infolge von Globalisierung und Amerikanisierung der kulturellen Unterschiede. Damit soll der Betonung des Anderen aber keineswegs die geistige Dignität bestritten werden, sofern das Nachdenken über das Andere und seine Beziehung zum Eigenen in der Tradition der dialogischen Philosophie wurzelt, wie sie von Martin Buber begründet wurde. Die von Buber in den Mittelpunkt seines Denkens gestellte Beziehung von Ich und Du samt ihrer Forderung nach der Öffnung des Einen für das Andere unterscheidet sich aber von der aktuellen Rede über das Andere durch das deutlichere Bewußtsein der Grenze und die Notwendigkeit der Entscheidung.

"Grenze" und "Entscheidung" sind heute verdächtige Begriffe, das eine riecht nach "Ausgrenzung", "Aufstachlung zum Rassenhaß", "Auschwitz", das andere nach "Ernstfall", "Befehl und Gehorsam", "Hiroschima". Wer eine noch etwas sensiblere Nase hat, dem riechen die beiden auch nach Carl Schmitt, dem steten unsichtbaren Gegner von "St. Jürgen" (Günter Maschke dixit). Niemand hat so präzise wie Schmitt eine politische Theorie entwickelt, die von der Differenz zwischen dem Eigenen und dem Anderen ausging und die Auffassung vertrat, daß in bestimmten Situationen der Bestand des Eigenen nur gegen das Andere zu erhalten sei. Und neben Schmitts Charakterfehlern und politischen Sünden hat nichts stärker zur Diskreditierung dieses Denkers beigetragen als seine folgende Behauptung: "Die spezifische politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind." Schmitt geht dabei explizit vom "öffentlichen Feind" aus, was bedeutet: "Feind ist also nicht der Konkurrent oder der Gegner im allgemeinen. Feind ist auch nicht der private Gegner, den man unter Antipathiegefühlen haßt. Feind ist nur eine wenigstens eventuell, das heißt der realen Möglichkeit nach kämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensolchen Gesamtheit gegenübersteht." Im Staat gibt es – bis zum Ausbruch eines Bürgerkriegs – keinen "öffentlichen Feind". Obwohl Schmitt das in wünschenswerter Deutlichkeit sagt, hat man ihn immer wieder dafür verantwortlich gemacht, daß innenpolitische Gegner geächtet und und zur Eliminierung freigegeben wurden.

Mittlerweile hat sich der Vorwurf von Schmitts Person weitgehend gelöst und kursiert nur noch als Verdikt gegen das "Freund-Feind-Denken". Wen der Vorwurf trifft, mit den Kategorien "Freund" und "Feind" zu operieren, der hat zumindest die veröffentlichte Meinung gegen sich. Nehmen wir als Beispiel die Auseinandersetzung um den jüngst ernannten Regierungssprecher Otto Hauser. Hauser hatte im Interview einen Vergleich zwischen der PDS und den Nationalsozialisten angestellt und sich damit des "Freund-Feind-Denkens" schuldig gemacht, will sagen, die PDS als "Feind" bestimmt. Das trug ihm nicht nur den Widerspruch der "Demokratischen Sozialisten", sondern auch einen Proteststurm der Medien und wütende Attacken der gesamten linken Intelligenz samt ihren Verbündeten in der Union ein, schließlich den Verlust der Rückendeckung durch die politische Führung. Wie erklärt sich das? Sicherlich nicht durch die Sachgerechtigkeit der vorgetragenen Argumente oder die Überzeugungskraft der auftretenden Meinungslager: die Empörten, die es nicht ertragen können, wenn Antifaschisten mit Faschisten gleichgesetzt werden, die Differenzierenden, zum Beispiel der Altbundespräsident von Weizsäcker, die immer ihre mahnende Stimme erheben, um vor allen unbedachten Verallgemeinerungen zu warnen, die Klugen, etwa Schäuble, die einen Lager-Wahlkampf vermeiden möchten, wie er sich in Gestalt der "Roten Hände"-Kampagne des Generalsekretärs schon anbahnt.

Alle diese Meinungslager beherrschen die Rhetorik der Empathie und variieren sie nur jeweils um eine Nuance. Sie behaupten, in einer Welt ohne Feind zu leben, Feinde gab es nur vor dem Sieg der "Zivilgesellschaft", und heute "brauchen" nur noch "Modernisierungsverlierer" und andere bedauernswerte Zeitgenossen Feindschaft. Diese Welt ist allerdings ein sensibles Gebilde, das sofort und vollständig untergeht, wenn "Gefahr von rechts" droht. Denn dann werden dieselben Empörten erklären, man müsse den Anfängen wehren (alternativ auch: "Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft"), die Differenzierenden werden darauf hinweisen, daß man den Wählern der DVU keinen Vorwurf machen könne, aber die verfehlte Sozialpolitik der Bundesregierung zum Abstimmungsergebnis wesentlich beigetragen habe, und die Klugen dürften die Auffassung vertreten, daß es keine demokratisch legitime Kraft rechts von der Union gebe, ganz egal, welches Programm die vertrete. Quintessenz: der "Feind" soll NPD, DVU, Republikaner, Bund Freier Bürger heißen, er darf nicht PDS heißen.

Es ist zuletzt nicht so, daß unsere Gesellschaft keine Feindschaft ertrüge, aber sie geht dem Wort aus dem Weg. Man bekämpft wohl Feinde, aber man nennt sie nicht so, und es gibt Anlaß zu der Vermutung, daß die mit dem sanftesten Tonfall in der Stimme die härtesten Bandagen anlegen. Wie in jeder von Menschen geschaffenen Ordnung, ist auch in dieser die Moral eine doppelte. Es gibt das, was coram pubico gesagt wird, und es gibt die arcana. Das vorausgesetzt, wird auch besser verständlich, was es mit dem Interesse am Anderen auf sich hat, was dazu treibt, seine Existenz zu ästhetisieren, zu psychologisieren und zu verundeutlichen und alles zu meiden, was nach Diskriminierung aussieht, also tatsächlich auf Unterscheidung ausgeht. Die Ursache der Faszination durch das Andere liegt vor allem in der Impotenz, das Eigene zu bestimmen. Es hat sich mittlerweile in der Bundesrepublik – aber in mancher Hinsicht handelt es sich um ein Phänomen, das die ganze westliche Welt betrifft – eine Mischung aus Unwillen und Unfähigkeit verbreitet, die eigene Identität zu klären. Zu sagen, was das ist; "deutsch" oder "europäisch", nach welchen Kriterien jemand dazugehört oder ausgeschlossen wird, löst garantiert eine ganze Kette von üblen Verdächtigungen aus.

Auch dafür ein Beispiel. Seit einiger Zeit gibt es eine Kampagne gegen den Berliner Innensenator Schönbohm, die ihre Ursache darin hat, daß Schönbohm nicht nur grundsätzliche Zweifel an der bisherigen Praxis des Polizeieinsatzes geäußert hat – Stichwort: Deeskalation –, sondern auch immer vernehmlicher Bedenken anmeldet gegen die Vorstellungen von Multikulturalität, wie sie in der Stadtregierung und den tonangebenden Kreisen der Metropole üblich sind. Während es einigen Vertretern der Berliner SPD durchaus denkbar und sinnvoll erscheint, Bezirke Zuwanderern nach dem Muster amerikanischer Chinatowns "zu überlassen", hat Schönbohm erklärt, daß es seiner Meinung nach in Berlin keinen Raum für ein ethnisches, religiöses und zivilisatorisches Patchwork gebe. Besonders an die türkische Gemeinschaft gerichtet, forderte er die Aufgabe von "Parallelstrukturen" und die Bereitschaft zur Anpassung an die deutschen Gegebenheiten, sogar vom "Austrocknen" einzelner Bezirke, die einen überproportionalen Migrantenanteil haben, war die Rede. Das trug ihm natürlich den Vorwurf ein, daß er "schönhubere" (taz), aber er scheint davon relativ unbeirrt. Wahrscheinlich ist es nicht nur so, daß Schönbohm von der Richtigkeit seiner Anschauungen überzeugt ist, sondern auch weiß, daß er breite Bevölkerungskreise hinter sich hat, wenigstens aber den Teil der Autochthonen, der nicht nur mit einem ausgewählten Kreis von Eingewanderten zu tun hat und/oder völlig von jeder Konkurrenz (...) mit ihnen verschont bleibt.

Was Schönbohm verhindern will, ist die völlige Auflösung aller Möglichkeiten der Orientierung im Namen der Urbanität, die von dem Eigenen nichts mehr wissen will, oder glaubt, daß die Bereicherung des öffentlichen Lebens grundsätzlich durch das Andere erfolge. Dabei haben die Xenophilen natürlich eine idyllische Perspektive vor Augen, aber mindestens irgendeine Version von der endlichen Harmonie der Gegensätze, der indes die Realität kaum entspricht. In der Maiausgabe der von der deutschen Caritas herausgegebenen Zeitschrift Sozialcourage wurde der Bericht einer Hamburgerin abgedruckt, die – aus dem alternativen Milieu gekommen – mit einer Wirklichkeit des Anderen konfrontiert wird, die in keiner Beziehung mehr zu den Blütenträumen vom friedlichen Zusammenleben der Kulturen steht. (...) Diese Art von Resignation ist die eine Seite, politischer Protest eine andere. Bei allen Betrachtungen über den Stimmenzuwachs rechtsradikaler Parteien in Europa wird dieser Zusammenhang selten genug genau beachtet. Nach den großen Wahlerfolgen des Front National in den französischen Kommunen beschlossen einige Departements im Umkreis von Paris, einen Film anfertigen zu lassen, in dem sich Anhänger des FN unzensiert äußern durften. Nach der ersten Aufführung kam es zu Protesten verschiedener linker Gruppierungen, die dem Film und seinen Machern verdeckte Werbung für Le Pen vorwarfen; der zentrale Einwand lautete, daß die Befragten zu normal wirkten, ihre Auffassungen einen Anstrich von Plausibilität erhielten, vor allem aber, daß offensichtlich weniger prinzipielles Mißtrauen gegen die politische Klasse, soziale Ängste oder die Frustration über das Leben in Stadtvierteln mit hohem Ausländeranteil die Entscheidung für den Front erleichterten, sondern der Unmut, nicht zu wissen, wie es eigentlich weitergehen solle, zu dieser Wahl führte. Die Bürger können nicht mehr erkennen, was das Eigene ist, ob das Andere dazugehört, ob es als ein Anderes im Eigenen fortbestehen darf oder soll, ob vielleicht gar kein Unterschied mehr zwischen Eigenem und Anderem behauptet werden darf.

Es geht hier letztlich um die Frage der Legitimität. Die Quelle der Legitimität ist in der Demokratie der demos, also das Volk. Man kann lange darüber diskutieren, wer das Volk ist, aber man kommt nicht umhin, dieses Volk in irgendeiner Weise zu bestimmen. Es mag sich aus der Vogelperspektive von Habermas so ausnehmen, als handele es sich beim Volk um eine auf dem Irrglauben an die Gemeinsamkeit beruhende "staatsbürgerliche Solidarität unter Fremden", aber selbst solcher Irrglaube müßte als kostbares Gut gehütet werden, soll nicht unvermittelt an die Stelle des Volkes ein Haufen einzelner treten, der zu der Einsicht kommt, daß man es nur mit Anderen zu tun hat, die nicht zu begreifen sind und die besser noch als Feinde behandelt werden sollten.


 
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