© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/98 26. Juni 1998

 
 
Kolumne
Gegenbilder
Von Ulrich Schacht

Wir erinnern uns: Es gab einmal eine zweite deutsche Diktatur, die hieß "Deutsche Demokratische Republik" und wurde vierzig Jahre alt. Bis ihr einige evangelische Pfarrer und kleinbürgerliches Proletariat zwischen Elbe und Oder im Herbst 1989 das Lebenslicht ausbliesen. Denn ihre Herrscher waren weder über freie Wahlen noch durch andere saubere Legitimationsverfahren an die Macht gekommen. Vielmehr hatten sie diese Macht, wie klassische Satrapen, aus den blutigen Händen Stalins entgegengenommen. Aber das mochten sie so nie zugeben.

Statt dessen spielten sie bis ans Ende ihrer bösen Tage die Rolle der verfolgten Unschuld; nannten sich Antifaschisten, Revolutionäre oder Avantgarde der Arbeiterklasse. Doch gerade die wurde von ihnen behandelt wie von rotlackierten Faschisten, finstersten Reaktionären und hinterhältigen Strauchdieben.

Dieses deutsche Modell moralischer Kulissenschieberei ist Geschichte. Es gibt aber seit geraumer Zeit eine Art westdeutsch grundiertes Gegenstück dazu: Etliche Vertreter vor allem der politischen Funktionseliten der alten Bundesrepublik, ausgestattet mit Ämtern, Würden und gesellschaftlichen wie medialen Machtpositionen, gebärden sich entweder als unerbittliche Widerstandskämpfer gegen die Lemuren des "Kostümfaschisten" (Martin Walser). Oder lassen sich, Mainstream-Helden, wie aus einer schlechten Operette, gar als "Querdenker" feiern, was bedeutet: als verfolgte Unschuld. Dabei sind sie in der Regel kaum etwas anderes denn Prototypen des politisch korrekten, mithin prinzipiell intoleranten Zeitgeistes, dem sie als Spitzel, Denunzianten, Agitatoren oder aufhetzerische Claqueure dienen.

Natürlich wurde und wird einem angesichts solcher Ausmaße von struktureller Heuchelei von Mal zu Mal schlechter, und schon lange kann man deshalb fast sinnlich nachvollziehen, warum Max Liebermann – angesichts der gleichgeschalteten braunen SA-Kolonnen im Januar 1933 – "gar nicht so viel fressen konnte, wie er kotzen" mußte. Doch lohnt es sich, in genau solchen Minuten nach Gegenbildern zu suchen und sie zu Vor-Bildern werden zu lassen. Eines, das es von gar nicht so wenigen gibt, zeigt eine unglaubliche Szene aus dem Jahre 1939: Während des Stapellaufs des Schlachtschiffs "Bismarck" auf der Hamburger Werft Blohm & Voss sieht man eine vielhundertköpfige Menge von Arbeitern und Angestellten, die das Ereignis mit dem Hitlergruß feiert. Nur einer, ein einziger Mann inmitten der gleichgeschalteten Menge, tut es nicht. Er hält seine Arme verschränkt vor dem Oberkörper. Ein Gegenbild. Ein Vorbild.


 
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