© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/98 03. Juli 1998

 
 
Ostzone: Die sowjetische Staatssicherheit übernimmt die Macht
Aufdecken und ausrotten
von Hans B. von Sothen

Noch in den letzten Wochen vor der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 begann die Sowjetunion neben der Errichtung einer Militärverwaltung mit dem Aufbau eines politischen Terrorapparates in den von ihr besetzten deutschen Gebieten. Während aber die Geschichte der sowjetischen Militärregierung in Deutschland, der Sowjetischen Militäradministration (SMAD), inzwischen gut erforscht ist (Jan Foitzik, SMAD – Struktur und Funktion, Akademie Verlag, Berlin 1996), ist über das Terrorregime der sowjetischen Geheimdienste in den unmittelbaren Nachkriegsjahren wenig bekannt. Noch heute hüllen sich die sowjetischen Archive bezüglich der meisten wichtigen Vorgänge in tiefes Schweigen. Diese Geschichte soll, wie kürzlich der russische Militärhistoriker und Professor an der Militäruniversität Moskau, Sacharow, bei einer Veranstaltung der Berliner Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Stalinismus, mitteilte, nunmehr auch anhand des zugänglichen Urkunden- und Aktenmaterials aufgearbeitet werden. Ein wichtiges Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte kann so möglicherweise erstmals beleuchtet werden. Denn die operativen Gruppen des Volkskommissariats des Inneren (NKWD) und die Einheiten der militärischen Abwehr (Smersch = Tod den Spionen) besaßen neben der SMAD praktisch die eigentliche und unkontrollierte Macht in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ).

Die sowjetischen Geheim- und Sicherheitsdienstler kamen nach Deutschland in den Gefechtsordnungen der Verbände der Roten Armee mit der Aufgabe, die ihnen Stalin übertragen hatte, die besetzten Gebiete Deutschlands von der Deutschen Agentur und von "feindlichen Elementen" zu säubern. "Tschekisten" nannten sie sich selbst in Anlehnung an Lenins Terrorapparat "Tscheka", den ersten Geheimdienst Sowjetrußlands. Die Tschekisten waren mit umfassenden Vollmachten ausgestattet und verstanden sich als "strafendes Schwert der proletarischen Diktatur" in Deutschland. Waren sie schon bei den eigenen Soldaten und Offizieren der Roten Armee nicht eben beliebt, so wurde die Abkürzung NKWD bei den besiegten Deutschen geradezu zum Symbol für das Recht des Siegers, über Schicksal und Leben der Besiegten zu entscheiden. Allerdings ahnten damals wahrscheinlich nur wenige, auch auf der sowjetischen Seite, daß diese Offiziere der Siegermacht sofort mit dem Aufbau eines umfassenden Terrorapparates und Spitzelnetzes in den von ihnen besetzten Gebieten begannen.

Chef-Tschekist Serow hatte Deportationen organisiert

Von Januar bis Mai 1945, als auf deutschem Boden noch erbitterte Kämpfe geführt wurden, hatten die NKWD-operative Gruppen (kurz: "Oper-Gruppen") und die Einheiten der Militärischen Abwehr "Smersch" offiziell die Aufgabe, in den vom Feind befreiten Gebieten die "notwendigen tschekistischen Maßnahmen" durchzuführen, die "faschistischen Diversanten und Terroristen auszurotten", Agenten der deutschen Aufklärungs- und Sicherheitsorgane, Funktionäre der "faschistischen Organisationen" aufzudecken und zu verhaften, die illegalen Funkstationen, Geheimdruckereien und alle Waffen und Munition zu konfiszieren.

Am 2. Mai 1945 unterschrieb Stalin in seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber der sowjetischen Streitkräfte und Vorsitzender des staatlichen Komitees der UdSSR für Verteidigung, die Geheime Anordnung Nr. 8377. Laut dieser Anordnung wurden bei den oberkommandierenden Generälen der 1. und der 2. belorussischen Front, den Marschällen Shukow und Rokossowski, und der 1. ukrainischen Front, Marschall Konew, die Posten ihrer Stellvertreter für Fragen der Zivilverwaltung eingeführt. Zu diesen Stellvertretern wurden ausgesprochene Tschekisten ernannt, der Kommissar der Staatssicherheit des 2. Ranges, Iwan Serow, und zwei andere Kommissare.

Serow erhielt praktisch unbegrenzte Vollmacht über die deutsche Bevölkerung in den von der Roten Armee besetzten deutschen Gebieten und war für alle Sicherheitsfragen verantwortlich. Zu seinen Aufgaben gehörten gemäß der erwähnten Anordnung Stalins die "Durchführung der notwendigen Arbeiten zur Aufdeckung von Spionen, Zerstörern, Diversanten, Terroristen, Mitarbeitern der hitlerischen Untergrundorgane, Mitgliedern der faschistischen Organisationen und der aktiven feindlichen Elemente". Es ist offenkundig, daß derartige Formulierungen faktisch jede sich in der SBZ befindliche unliebsame Person umfassen konnten.

Auf diese Weise arbeiteten im Sommer 1945 in den von sowjetischen Truppen eingenommenen deutschen Gebieten drei sowjetische Sicherheitsdienste, nämlich NKWD-"Oper-Gruppen" und deren angegliederte NKWD-Truppen, Einheiten der inneren Truppen, die Vollzugsorgan des NKWD waren, also für Verhaftungen, Durchsuchungen, Sicherung der NKWD-Gefängnisse und von Häftlingstransporten nach Sibirien zuständig waren. Dann der militärische Abwehrdienst Smersch, der die die Aufgabe hatte, die eigenen sowjetischen Truppenteile politisch und geheimdienstlich zu überwachen, und schließlich die Einheiten des Volkskommissariates für Staatssicherheit, NKGB, dem die Auslandsaufklärung oblag.

Mitte 1947 verfügte allein das Ministerium der Staatssicherheit der UdSSR in Deutschland über folgende Strukturen: den Apparat bzw. die Verwaltung des Bevollmächtigten, 6 Oper-Sektoren, 20 MGB-Bezirks-Oper-Gruppen, 133 MGB-Kreis- und Stadt-Oper-Gruppen, 24 Gefängnisse, 133 Untersuchungshaftstellen, 2 Sonderabteilungen des MGB bei SMAD, für den Stab und für das Transportwesen, und 2 Abteilungen für Militärzensur in der SBZ.

Da alle drei Geheimdienste ähnliche Aufgaben wahrnahmen, strebte man bald danach, sie einer einheitlichen Leitung zu unterstellen. Am 6. Juni 1945 wurde NKGB-Chef Iwan Serow daher auch zum Stellvertreter für die Fragen der Zivilverwaltung beim obersten Chef der SMAD, Marschall Georgij Shukow, ernannt. Serow war also in den Jahren 1945/46 praktisch die führende tschekistische Person in der SBZ.

Serow war 1945 38 Jahre alt, Generaloberst und Held der Sowjetunion. Er war ein erfahrener Tschekist mit militärischer Ausbildung – er hatte die
Frunse-Akademie absolviert. Das war eine Seltenheit bei den Tschekisten. Serow hatte bereits bei der Durchführung von operativen tschekistischen Aufgaben seine Talente, in erster Linie in Polen, bewiesen. Vorher hatte er die Deportation Tausender Bürger der baltischen Staaten nach Sibirien organisiert, später war er an der Deportation der Wolgadeutschen, der Tschetschenen und anderer nordkaukasischer Völkern beteiligt. Im Zuge des Vormarsches der Roten Armee auf polnisches Gebiet sicherten Serows NKWD-Einheiten die Niederschlagung des nationalpolnischen Widerstandes. Mit massiver Unterstützung von Serows Beratern wurde in Polen ein kommunistisches Regime errichtet. Der verdiente Tschekist starb nach einem tiefen Karriereknick erst im Jahr 1990.

NKWD-Gefängnisse: Die meisten starben an Hunger

Das sehr unterschiedliche Kräfteverhältnis – die NKWD-Oper-Gruppen verfügten im Januar 1946 über 2.230 Mitglieder, das NKGB in der SBZ nur über 399 – führte dazu, daß das in Deutschland stärker verbreitete NKWD in der Praxis einige Aufgaben aus dem Bereich des NKGB übernahm. In Anbetracht dieser Situation bat die Führung der beiden tschekistischen Kommissariate NKWD und NKGB Stalin, den General Serow auch zum NKGB-Bevollmächtigten in Deutschland zu ernennen. Dem Vorschlag wurde stattgegeben und NKWD und NKGB angewiesen, ihre Arbeit in Deutschland zu koordinieren. Damit war der Zentralisierungsprozeß in der Tätigkeit der sowjetischen Geheimdienste in Deutschland Anfang 1946 aber noch nicht beendet. Im März 1946 wurde das NKGB in Ministerium für Staatssicherheit umbenannt. Wenig später wurde der bisherige NKGB-Chef durch Generaloberst Wiktor Abakumow abgelöst, der bis dahin den militärischen Abwehrdienst Smersch geleitet hatte. Er reorganisierte jetzt den MGB-Apparat auch in Deutschland und wurde dabei versteckt von Stalin unterstützt. Im Oktober wurden alle NKWD und NWD-Oper-Sektoren der Länder und parallel dazu der SBZ sowie die ihnen unterstellten NKWD/NWD-Oper-Gruppen dem Ministerium für Staatssicherheit der Sowjetunion unterstellt. Ihm wurden ebenfalls die inneren NKWD/NWD-Gruppen in der SBZ und der NKWD-Gefängnisse in der SBZ mit Personalbestand und den Häftlingen unterstellt.

Massenverhaftungen hatten die Einrichtung eines NKWD-Lager- und Gefängnissystems in der SBZ erforderlich gemacht. Nach dem NKWD-Befehl Nr. 00315 vom 18. April 1945 wurden 200.000 Deutsche verhaftet sowie 100.000 Russen, sowjetische Bürger, die verdächtigt wurden, Staatsverräter zu sein, das heißt, mit den Deutschen zusammengearbeitet zu haben. Formell war die sowjetische Besatzungsmacht zu derartigen Repressionsmaßnahmen durch die gemeinsamen Vereinbarungen der Siegermächte über die Besatzungspolitik in Deutschland berechtigt. Aber nur rein formell.

Die Angaben über die Zahlen der Verhafteten schwanken stark. In einer Vorlage für Serow über den Zustand der Sonderlager und Gefängnisse des Ministeriums des Inneren vom 1. August 1947 hieß es, daß entsprechend dem Befehl 00315 110.784 Deutsche 27.000 Sowjetbürger durch die operativen Sektoren und durch die Oper-Gruppen verhaftet wurden; zusammen also etwa 138.336 Personen.

Andere Zahlen sprechen von 300.000 Menschen. Realistisch scheint die vom Moskauer Militärstaatsanwalt Opali zu sein, wonach die Zahl der Verhafteten in Deutschland 260.000 betrug. Der Abschlußbericht des letzten Leiters der Abteilung der Speziallager des Innenministeriums der UdSSR in Deutschland, Oberst Sokolow, vom 1. März 1950 stellt fest, daß in der Zeit vom 15. Mai 1945 bis zum 1. März 1950 in den Speziallagern insgesamt 157.837 Internierte und Verurteilte registriert wurden. Von diesen kamen etwa 43.000 Häftlinge ums Leben, in erster Linie durch Verhungern und damit zusammenhängende Krankheiten. 756 Häftlinge und Verurteilte wurden in den Sonderlagern erschossen. 45.000 wurden entlassen in den Jahren 1946 bis 1950. 10.700 wurden an das DDR-Innenministerium übergeben, und 6.072 an das MGB, also das Ministerium der Staatssicherheit der UdSSR.

Die Erforschung dieses schrecklichen Kapitels deutscher Nachkriegsgeschichte steht erst am Anfang. In Rußland bricht sich inzwischen immer mehr die Erkenntnis bahn, daß eine Aufarbeitung dieser Geschehnisse auch für Rußland selbst von eminenter Bedeutung ist.


 
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