© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/98 03. Juli 1998

 
 
Gesellschaft: Die Verhältnisse in Deutschland sind nicht so zementiert, wie Kritiker behaupten
Sichtbare Risse in der Betonplatte
von Thorsten Thaler

Was ist los mit unserem Land? Im Klartext: Der Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression – das sind die Stichworte der Krise. (…) Wir brauchen wieder eine Vision. Visionen sind nichts anderes als Strategien des Handelns. Das ist es, was sie von Utopien unterscheidet. (…) Aber es ist auch noch nicht zu spät. Durch Deutschland muß ein Ruck gehen. Alle sind angesprochen, alle müssen Opfer bringen, alle müssen mitmachen."

Seit Bundespräsident Roman Herzog im April 1997 seine inzwischen berühmte Berliner Rede "Aufbruch ins 21. Jahrhundert" gehalten hat, sind die Kernsätze daraus immer und immer wieder bis zum Überdruß zitiert worden. Zumeist von politischen Kommentatoren und Feuilletonisten gleichermaßen mit der resignativen Fußnote versehen, daß sich seither ja doch nichts bewegt habe hierzulande. Häufig aber sehen diese nur, was sie sehen wollen. Es ist der unerschütterliche Glaube an zementierte Verhältnisse, der sie in einer publizistischen Endlosschleife über die Schlechtigkeit dieser Welt – oder wenigstens: dieses Landes – lamentieren läßt. Daß bei ihrer fortdauernden Wehklage über politischen Stillstand und geistige Leere jede Wahrnehmung von Rissen im Beton auf der Strecke bleibt, ist da nur die Kehrseite ein und derselben Medaille.

Dabei gibt es sie tatsächlich, diese Risse in den Betonplatten des Zeitgeistes. Stellvertretend für andere Beispiele steht eine Demonstration am vergangenen Donnerstag in der Berliner Innenstadt, zu der die Fachgemeinschaft Bau aufgerufen hatte. Etwa 2.000 mittelständische Bauunternehmer und deren Beschäftigte protestierten gegen Billiglöhne und Schwarzarbeit auf deutschen Baustellen. "Erst Arbeit – dann Europa", "Gegen Inländerdiskriminierung am Bau", "Für den Vorrang heimischer Arbeitskräfte in Krisenzeiten" – die mitgeführten Plakate und Transparente der erzürnten Bauarbeiter ("Uns reicht’s jetzt") erinnerten stark an die von diversen Rechtsparteien propagierte Losung "Arbeit zuerst für Deutsche". Unverblümt auch die Forderung von Kaspar-Dietrich Freymuth, Präsident der Fachgemeinschaft Bau: "Der völlig ungeregelte Zustrom ausländischer Billiglohnarbeiter aus der EU sowie die ausufernde Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung müssen ein Ende haben", erklärte der Verbandspräsident.

Die gemäßigte Linke entdeckt den Staat

Nach Angaben der Fachgemeinschaft liegt die Zahl der illegal Beschäftigten bei rund 30.000 allein in Berlin. Der Mindestlohn beträgt 16 DM pro Stunde, nicht selten werden Tariflöhne von 25 DM gezahlt. Weißrussen, Esten oder Letten arbeiteten hingegen schon für fünf DM in der Stunde, weiß der Interessenverband zu berichten. Der Industrie- und Handelskammer blieb ebenso wie der IG Bau und dem Hauptverband der Deutschen Bauindustrie bei soviel Realitätssinn nur die Flucht in eine überkommene Verweigerungshaltung. Unisono distanzierten sie sich von der Demonstration, weil sie befürchteten, wegen der vermeintlich "ausländerfeindlichen Tendenzen" in die "rechte Ecke" gedrängt zu werden.

Die von Arbeitslosigkeit betroffenen oder bedrohten deutschen Bauarbeiter scheren sich darum ebenso wenig wie die mittelständischen Bauunternehmer, deren Auftragslage rückläufig ist. "Wir haben zweimal friedlich demonstriert, jetzt fehlt nur noch ein kleiner Funken", droht der Inhaber einer kleinen Baufirma, und der Besitzer eines Straßenbauunternehmens diktiert einem Zeitungsreporter den Satz in den Block: "Auf dieser demokratischen Basis ist wohl nichts mehr zu machen. In Zukunft gibt es harte Auseinandersetzungen." Der geistige Nährboden für einen "Ruck" ist hier allemal vorhanden.

Risse im Beton lassen sich unterdessen auch in der linken Hälfte des politischen Koordinatensystems wahrnehmen. So beispielsweise in der vollständig von über 30 Alt-Achtundsechzigern produzierten diesjährigen Oster-Ausgabe der taz. Darin liest der frühere Kommunarde und "Haschrebell" Johann von Rauch den Linken kräftig die Leviten: "Unser Wahrheitsbegriff führt zum Dogmatismus und Sektierertum, womit wir uns seit jeher selbst im Wege stehen. (…) Die Schwarz/weiß-Logik macht aus uns Menschen oder Schweine, Freund oder Feind, Sieg oder Tod. Gesellschaftliche Entwicklungen vorantreiben wollen, sich selbst aber am Ende der Entwicklung angekommen wähnen, das geht nicht."

Ein "Neues Denken", das zu einer "Neuen Politik" führe, mahnt auch der ehemalige RAF-Angehörige Horst Mahler an. "Sie wird nichts anderes sein als die Befreiung der Idee der Nation aus der babylonischen Gefangenschaft des Zeitgeistes. Die von einem neuen Geist beseelte Nation wird die vermeintlichen Sachzwänge des Marktes brechen und das Leben des Gemeinwesens gegen das Spekulationskaptial sichern", schreibt Mahler in einem in dieser Zeitung erst unlängst veröffentlichten Debattenbeitrag (JF 26/98).

Rauchs Analyse und seine Mahnung, festgefügte Weltbilder aufzubrechen, Mahlers Rekurs auf die Nation – alles nur verzweifelte Rückzugsgefechte zweier gescheiterter Revoluzzer?

Dagegen spricht eine Debatte, die seit Pfingsten in bislang vier Folgen auf der Meinungsseite der taz geführt wird und die unter dem Motto steht "Die Linke und der Staat". Daß die Linke nach rund drei Jahrzehnten, in denen sie mit der Kampfparole "Feuer und Flamme für diesen Staat" gegen staatliche Institutionen und Repräsentanten Front gemacht hat, nunmehr ihr Verhältnis zu ebendiesem Staat neu überdenkt, verdient allemal Aufmerksamkeit. Unter dem Eindruck des Zwillingspärchens Turbokapitalismus und Ultraliberalismus, die als wirtschafts- und gesellschaftsprägende Kräfte an der Schwelle zum 21. Jahrhundert alles Soziale unterzupflügen drohen, sieht sich offenbar auch eine gemäßigte Linke gezwungen, von herkömmlichen Denkschablonen Abschied zu nehmen.

Den Anfang machte der Berliner Kultursoziologe und Publizist Wolfgang Engler. Er will in einer Situation, in der "die etablierte Politik ins Laufen" geraten sei, den Staat als "das delikate Erbe der Linken" entdeckt haben. Engler meint, daß sich das Kräfteverhältnis zwischen den gesellschaftlichen Großgruppen deutlich zugunsten der Kapitalbesitzer verschoben habe. Der Staat als "der große Moderator des sozial Gebotenen" und zivilisatorische Instanz weiche "dem unerbittlichen Vollstrecker des wirtschaftlich Notwendigen". Die staatliche Umverteilung, so Engler, mildere die aus dem Einkommen erwachsenen Kontraste nicht mehr. Der Anteil effektiv verfügbarer Einkommen am Gesamteinkommen gehe zurück, der Anteil der unteren und oberen Einkommen nehme zu. Während das relative Steueraufkommen des Staates aus Unternehmertätigkeit und Vermögen trotz steigender Gewinne ständig sinke, seien Arbeiter und Angestellte mit einer wachsenden Steuerlast konfrontiert. "Die leeren Kassen der öffentlichen Hände, unter denen gerade die zu leiden haben, die ihr Soll erfüllen, sind hausgemacht; sie entspringen der politischen Feigheit vor den wirtschaftlich Mächtigen", schreibt Engler.

Schmerzhafte Erkenntnisse ins Stammbuch geschrieben

Weil der Staat sich zum geschäftsführenden Ausschuß der Bürgerklasse zurückzubilden scheine, müsse die Linke versuchen, ihn in die gesellschaftliche Pflicht zu nehmen, fordert der Kultursoziologe. "Gerade weil das Bürgertum auf seinem globalen Egotrip von nationalen Interessen nichts mehr wissen will, muß die Linke diese Interessen festhalten; darauf bestehen, daß nur eine weitsichtige, sozialstaatlich regulierte Wettbewerbsordnung auf Dauer bestehen kann. Sie verteidigt damit auch das wohlverstandene Eigeninteresse der Eliten, vorzüglich jedoch ihren eigenen Anteil an der Zivilisierung des Staats. Die Forderung, den Staat zu stürzen, kann sie derweil getrost den fahnenflüchtigen Etatisten von gestern überlassen."

Eine Abkehr von der linken "Staatsfurcht" mahnt auch Sibylle Tönnies, Hochschullehrerin in Bremen, in ihrem Debattenbeitrag an, wenn sie schreibt, in Deutschland sei eine prinzipielle Revision des Geschichtsbildes nötig. "Denn tatsächlich stand die deutsche Tragödie keineswegs in einer Tradition exzessiver Staatstätigkeit – die deutsche Geschichte ist im Gegenteil durch die mangelnde Herausbildung von Souveränität gekennzeichnet." Als "verspätete Nation" habe Deutschland nicht nur in seiner politischen Einigung, sondern auch in der Herausbildung eines Gewaltmonopols unter einer Verzögerung zu leiden.

Es sei absurd, wenn die Erinnerung an die Epoche der staatsfeindlichen Nationalsozialisten jetzt daran hindere, mit allerKraft "die Souveränität des Staates über die Wirtschaft anzustreben". Der Linken schreibt Sibylle Tönnies ins Stammbuch: "Zu den schmerzhaften Erkenntnissen, die sich die Linken gern ersparen wollen, gehört die Tatsache, daß die Nazi-Ideologie in dem entscheidenden Punkt der Staatsablehnung mit der marxistischen konvergierte. Diese Konvergenz rechtfertigt den Oberbegriff ‘Totalitarismus’ (…)".

Zu der hier angedeuteten Vergleichbarkeit von Nationalsozialismus und Bolschewismus paßt eine – aus linker Sicht – ungeheure Provokation aus der vergangenen Woche. Unter der Überschrift "Don’t touch my Holocaust" reibt sich wiederum die taz an der gebetsmühlenhaft vorgetragenen "Holocaustfixierung" linker Historiker wie Wolfgang Wippermann, an der gemessen alle anderen Verbrechen nachrangig seien. "Diese Argumentation", entgegnet taz-Redakteur Stefan Reinecke, "hat einen religiös anmutenden Unterton: Du sollst kein Jahrhundertverbrechen neben mir haben. So rückt die Vernichtung der Juden in die Nähe einer negativen Sinnstiftung."

"Scheiß-Aufklärung" rufen halbgebildete Linke

Diese doktrinäre Verhärtung konterkariere das Anliegen, die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten wachzuhalten, glaubt Reinecke. "Wer die Notwendigkeit, sich in Deutschland an die NS-Verbrechen zu erinnern, an die Formel der ‘Singularität von Auschwitz’ kettet, baut auf Sand. Denn bei allen fundamentalen Unterschieden im Modernitätsniveau und den Zielen – moralisch existiert kein Unterschied zwischen den stalinistischen und nationalsozialistischen Ausrottungsverbrechen."

Wie weit sich die gemäßigte Linke mit dieser Korrektur ihres Geschichtsbildes von den Halbgebildeten und Dogmatikern der autonomen "Antifa"-Szene entfernt hat, offenbarte sich bei einer Diskussionsveranstaltung zum "Schwarzbuch des Kommunismus" (die JF berichtete). Zumeist jugendliche Störer entrollten ein Transparent mit der Aufschrift "Es lebe der Kommunismus", begleitet von dem Ruf "Scheiß-Aufklärung". Auch hier also sind die Risse im Beton bereits sichtbar.


 
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