© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/98 03. Juli 1998

 
 
Polemik: Der Zustand der Bildung in Deutschland nach dem getanen Werk der Reformer
Lernziel: Pflicht ist ekelhaft!
Von Erwin Immler

Schizophrener geht’s kaum noch:Hört man den deutschen Unternehmer in öffentlichen Reden, dann bläst er ins gleiche Horn wie alle Minister, Gewerkschaftsfunktionäre und Landräte "strukturschwacher Regionen": "Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, um der Arbeitslosigkeit Herr zu werden!" Redet man mit dem gleichen Unternehmer, Berater oder leitenden Angestellten, dann wird er eher das Gegenteil sagen: "Mensch, bring mir gute Leute, so viele du kriegen kannst! Ich weiß nicht, wo ich sie hernehmen soll!" Traut er einem zu, daß man seine Worte nicht in Gewerkschaftsmagazine trägt, dann wird er in ohnmächtiger Wut hinzufügen: "Haut bloß ab mit den Arbeitslosen, die das Arbeitsamt mir schickt: Von 20, die ich mir anschaue, kann ich 16 wegen Untauglichkeit nicht brauchen, die anderen vier denken nicht im Traum daran, bei mir wirklich zu arbeiten!" Wehe, wenn diese grimmigen Worte ans Ohr der Hängemattenknüpfer kommen: Dann hat der Unternehmer gleich den Abdruck aus deren Stempel-Vokabel-Kasten auf dem Ausbeuter-Hemd: Ewiggestriger, Ausbeuter, Reaktionär, Vereinfacher!

Die Wahl zwischen Stufen des Unqualifizierten


"Vereinfachen" möchte der Chef sich das Leben ja nur allzugerne: aus einem halbwegs breiten Bewerberangebot den relativ Besten auswählen. Doch unter Menschen "auswählen" ist der Inbegriff eines "menschenverachtenden kapitalistischen Zynismus" für jeden, der die Terminologie deutscher Sozio- und Politologen gebraucht. Eine Selbstverständlichkeit ist es jedoch für jeden, der in irgendeiner Funktion dafür zu sorgen hat, daß die Wirtschaft läuft und jenen Wohlstand erzeugt, der den Schwaflern die Zeit (und die Unterstützungen) zum Schwadronieren spendiert.

In der Praxis hat der Unternehmer, der Personalchef, der Personalberater aber meistens nur noch die "Auswahl" zwischen verschiedenen Stadien und Schattierungen der Unqualifiziertheit. Beherrscht eine Sekretärin halbwegs die deutsche Sprache und deren Rechtschreibung, dann hatte sie (seltene Ausnahme) ihre Muttersprache nicht "abgewählt", sondern in der zur Universitäts-Mimikry hochgejubelten "Leistungsstufe" beibehalten. Hatte sie Glück mit ihrem Studienrat, dann fiel dabei sogar etwas Ortographie und klassische Literatur neben den ganzen Dampfquassel-Analysen ab. Die dümmlichen Witze früherer Manager-Generationen über die Rechtschreib- und Zeichensetzungskünste ihrer volksschulgebildeten Schreibkräfte sind bittere Wahrheit geworden: "Natürlich weiß ich, daß man Physik nicht mit F schreibt. aber was kann ich dafür, daß das V auf meiner Maschine klemmt?"

Die Unfähigkeit, sich in zusammenhängenden Sätzen auszudrücken, hat sich dank der "Bildungsreformen" auf gymnasiale und "universitäre" Ebene verlagert: Ich habe als Hochschullehrer in sechs Jahren nicht eine einzige orthographisch korrekte Prüfungsarbeit korrigieren dürfen! Hört man einmal Studenten-Diskussionen zu, so wird man wenig zu Ende gesprochene Sätze feststellen. Und diese Betriebswirte, Volkswirte, Ingenieure sollen dann ihre Sitzungsprotokolle, Angebotsbriefe, Produktbeschreibungen, Gebrauchsanweisungen schreiben? An Werbetexte aus der Feder dieser Muttersprachsmurkser wagt ein Unternehmer, der nicht schon selber zu diesen reformverkorksten Jahrgängen gehört, gar nicht zu denken.

Ich habe Studenten einer betriebswirtschaftlichen Hochschule unterrichtet, die auf vier Seiten handgeschriebener Klausurarbeit mehr als hundert Rechtschreibfehler zustandebrachten. Im Examen gingen sie mit Note "Gut" über die Hürden, denn "solche Trivialitäten", wie die Beherrschung der Muttersprache, zählen nicht, dürfen gar nicht mitbewertet werden. Fast jeder Volksschüler des Geburtsjahres 1912 schreibt ein stilistisch und orthographisch besseres Deutsch als 90 Prozent der Jung-Akademiker. Nicht alle Bewerber sind Orthographie- und Sprachpfuscher. Aber man kann als Personalchef und Berater hundert zu eins wetten, daß man fast immer die Wahl hat: entweder einen Sprach- oder einen Naturwissenschaftskönner einzustellen. Abiturienten, die dem Bildungsideal einer verhältnismäßig breiten Grundlage nahekommen, müssen in Frankreich, in Österreich oder in der Schweiz angeworben werden. Da macht man noch klassisches Abitur. In Österreich aber bemühen sich die "Reformer", dem deutschen "Ideal" nachzueifern.

"Praxisnähe" ist gefordert im Hochschul-Unterricht. Aber man schildere einmal die Fertigungsplanung eines Chemiewerkes, wenn der Schmalspur-Abiturient nicht einmal die Formel für Wasser kennt. Also weicht der Dozent in abstraktes Formelgefasel vom Produkt Y aus, das zu Produkt X "verformt" werden soll. Und mit dem Abstraktions-Gerede trifft der Herr Diplomkaufmann dann in vier Jahren auf grinsende fünfzigjährige Facharbeiter? Chemie hatte der Noten-Arithmetiker und Numerus-Clausus-Überwindungstrategie-geschulte Abiturient als "punktegefährdendes Fach" natürlich "abgewählt". Dafür dann unverstandene Spezial-Kenntnisse im Fach Biologie auswendig gebüffelt. Man bläst sich als profilneurotischer Studienrat mit irgendeiner "Tiefenbohrerei" zum Universitäts-Dozenten auf und vermittelt seinen Schülern ein unangebrachtes Bild vom hohen Stand der eigenen Bildung. Eltern staunen dann, wenn ihnen die Tochter auswendig runterrattert, wie so eine Chromosomenkette funktioniert: "So schwer war unser Abitur anno 1950 bei weitem nicht!"

Unfähig, das Wissen in ein Gesamtbild einzuordnen


Alles ist ein erfolgreicher Bluff der Reformer. Wüßten die Eltern, wie unfähig ihre gymnasialen Sprößlinge sind, dieses unverdaute Wissen in ein geistiges Gesamtbild einzuordnen – sie suchten, wenn sie es sich leisten können, schleunigst nach einem soliden Schweizer Internat. Jeder Unternehmer weiß, daß ihm die Abitur- und Examensnoten seiner jungen Bewerber etwa gleichviel sagen, wie deren Blutgruppe oder Haarfarbe verrät. Aber in ihrer Hilflosigkeit stürzen sich die Stellen-Ausschreiber dennoch auf diese Zeugnisse in der Hoffnung: "Ein bißchen etwas wird’s doch bedeuten!" In der Spottvokabel von der "sozialen Hängematte" ist alles umschrieben, was es zum Thema "Arbeits-Unwilligkeit" zu sagen gibt. Die Gründe der Arbeits-Unfähigkeit werden weißgottwo geortet, nur nicht dort, wo sie liegen: in der Zerstörung unseres Schulsystems durch die Reformer.

Vor Jahren wurde – auch von Georg Picht (CDU) – eine "Bildungskatastrophe" vorhergesagt. Aus der "viel zu geringen" Abiturientenzahl wurde eine "Katastrophe" für die Wirtschaft prognostiziert – und damit herbeigeredet. Wir haben die Abiturienten-Quote von etwa 1,5 Prozent auf beinahe 50 Prozent eines Jahrganges im wahrsten Sinne des Wortes hochgequetscht und hochgemogelt. Dreißigmal soviele und nicht halb so gute Abiturienten sind das Ergebnis. Betriebswirte, die an der Hochschule unter dem pompösen Titel "propädeutische Förderkurse" primitives Prozent- und Dreisatzrechnen lernen müssen, um wenigstens oberflächlich den anderen Vorlesungen folgen zu können, sind eher die Regel als die Ausnahme. "Neigungsfächer" hatten sie im Gymnasium statt notwendiger Fächer. "Lust" mußten sie zu etwas haben, um sich überhaupt damit zu befassen. Und so möchten sie dann später auch arbeiten. Schon das bloße Wort "Pflicht-Fächer" verursacht ihnen das dringende Bedürfnis zu einer Demo gegen die "neofaschistoiden Tendenzen repressiven Leistungsterrors".

Dies mag alles nach böser Polemik klingen, aber es ist die bittere Wahrheit: Wir züchten zunehmend leistungslahme Gymnasiasten und Akademiker: Masse statt Klasse! Und wir schulen – bestenfalls – immer mehr Menschen, die immer mehr und mehr und mehr über immer weniger wissen, bis sie alles über nichts wissen! Geistig und seelisch eingeengte Spezialisten, die nicht nur – um das alte Bild zu gebrauchen – unfähig sind, über den eigenen Tellerrand zu blicken. Sie stochern auch dort nur in einem kleinen Teilbereich herum. Bestenfalls bekommen wir engstirnige Spezialisten aus unseren Bildungsinstituten, eher aber noch Dampfplauderer, Bluffer und Weiterbildungs-Gelähmte.

Wer dies alles für Miesmacherei hält, der schicke sein Kind mit einem deutschen Abiturzeugnis an die Schweizer Handelshochschule in St. Gallen zur Bewerbung um einen Studienplatz. Er muß sich dann bloß wiedergeben lassen, was dem Bewerber dort zum deutschen Abitur gesagt wird. 1951 noch gab es mit dem deutschen Abitur kein Aufnahmehindernis in Genf, London oder Harvard, das mit der Qualität des Abiturs zu tun gehabt hätte. Wenn man es heute dort versucht, lachen die Prüfungsgremien über den Quatsch aus dem ehemaligen Land der "Dichter und Denker".

Es gibt tiefschürfende Analysen unseres jetzigen Bildungssystems. Eine der besten stammt aus der Feder des Soziologen Helmut Schoeck. In seinem Buch "Kinderverstörung" zeigt er, was durch die "Reformen" erreicht worden ist. In den Augen der Wirtschaft ist eines der präzise erreichten "Lernziele" die Einstellung einer ganzen Generation zwischen 5 und 35: "Arbeit ist ekelhaft!"


 
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