© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/98 10. Juli 1998

 
 
Vertriebene: Deutsch-polnische Aufregung um eine Bundestagsresolution
Schrille Töne und Morgenluft
Martin Schmidt

Ein wenig Morgenluft dürfen die ostdeutschen Vertriebenen in diesen Tagen schon wittern angesichts der breiten Kreise, die die Debatte zwischen Bonn und Warschau um die Bundestagsresolution vom 29. Mai mittlerweile gezogen hat.

Statt wie üblich weitgehend totgeschwiegen zu werden, sind einige zentrale Anliegen – nicht nur – der Ostdeutschen, sondern eigentlich aller Deutschen – zum öffentlichen Hauptgesprächsthema geworden, und die ebenso agile wie couragierte neue BdV-Vorsitzende Erika Steinbach kann mit ihrer Ausstrahlung Pluspunkte sammeln.

Auf den ersten Blick ist die ganze Aufregung allerdings kaum nachzuvollziehen, hatte doch die von der Regierungskoalition getragene Resolution in ihrem Kern nur ein eindeutiges juristisches Faktum zum Inhalt, nämlich daß die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg "völkerrechtswidrig" gewesen ist und ein "großes Unrecht" darstellte. Außerdem wurde in betont maßvoller Wortwahl eine "umfassende Einbeziehung" der deutschen Vertriebenen und Aussiedler sowie der heimatverbliebenen deutschen Minderheit in den Verständigungsprozeß mit Polen gefordert. Auch forderte die Abgeordnetenmehrheit die Bundesregierung auf, sich bei den östlichen Nachbarstaaten für die "legitimen Interessen" der Heimatvertriebenen einzusetzen, und es wurde die Hoffnung geäußert, daß mit der EU-Osterweiterung der Streit mit Warschau und Prag um Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit gelöst werden könne.

Die Entschließung des Sejms, also des polnischen Abgeordnetenhauses, die am 3. Juli als Reaktion auf die keineswegs neuartige Verlautbarung aus Bonn folgte, kann nicht anders denn als Unverschämtheit gewertet werden. Bei nur zwei Enthaltungen (die beiden deutschen Vertreter aus Oberschlesien nahmen an der Abstimmung nicht teil) wurde ein Text verabschiedet, in dem sich Passagen wie die folgenden finden: "Der Sejm der Republik Polen stellt fest, daß die Resolution (...) nicht der sich gut entwickelnden Zusammenarbeit Polens und Deutschlands dient. Sie enthält Doppeldeutigkeiten, die uns nicht gleichgültig lassen können. (...) Unsere Teilnahme an der Union muß auch die Unantastbarkeit der polnischen Grenzen bedeuten sowie die Unantastbarkeit der polnischen Eigentumsrechte an Immobilien." Nicht zuletzt ist von "gefährlichen Tendenzen" die Rede.

Die in etlichen polnischen Publikationen immer wieder geschürten Ängste vor einer nach dem EU-Beitritt drohenden massenhaften Heimkehr ostdeutscher Vertriebener bildet hier offenbar den Hintergrund für ein perfides Propagandastück, bei dem auf polnischer Seite mit einem kräftigen Schuß Polemik die bekannten Positionen aufgewärmt werden – also die von Warschau wie auch von Prag vertretene Ansicht, daß es nur ein "individuelles Leid" der deutschen Vertriebenen gegeben habe, ansonsten aber die Austreibungen durch die Ergebnisse der Potsdamer Konferenz rechtlich gedeckt gewesen seien. Daneben wird die ebenfalls nicht neue und häufig erfolgreiche Strategie verfolgt, die deutschen Vertriebenen in der Bonner politischen Landschaft nach Möglichkeit zu isolieren und als Einflußfaktor auszuschalten. Die Mächtigen in Warschau wissen sehr wohl, wie anfällig die etablierten Parteien auf Appelle an den "gemeinsamen Willen zur Aussöhnung" und an "Europa" reagieren. So fielen in der Entschließung des Sejms denn auch die Worte, daß die Bundesrepublik Deutschland alles tun solle, "damit keine kurzsichtigen Partikular-Interessen das verspielen, was der größte Erfolg Europas in den vergangenen Jahren war".

Auf bundesdeutscher Seite ist zweifellos viel Wahlkampf mit im Spiel: Die Unionsparteien wollen vor allem kurzfristig Stimmen im teilweise zutiefst frustrierten Vertriebenenlager retten. Darüber hinaus geht es auch um entscheidende interne Weichenstellungen, nämlich darum, ob überhaupt und in welchem Ausmaß man im Hinblick auf einen polnischen EU-Beitritt Zugeständnisse Warschaus an die ostdeutschen Vertriebenen herausholen will bzw. zumindest die bei einer Mitgliedschaft an sich obligatorische Freizügigkeit gewährleistet. Letzteres könnte wenigstens für einige wenige Ostpreußen, Westpreußen, Pommern, Schlesier und Ost-Brandenburger den Weg zur Rückkehr in ihre Heimat bereiten. Daß in allen diesen Fragen erhebliche Meinungsverschiedenheiten bestehen, ist bekannt. Prompt hat FDP-Außenminister Kinkel auf die Forderung Kwasniewskis, Bonn solle doch mehr Rücksichten auf "polnische Empfindlichkeiten" nehmen, wie nicht anders zu erwarten prompt reagiert. Der liberale Parteivorsitzende bekräftigte: "Wenn der polnische Sejm jetzt so reagiert, ist das auch Ausdruck der Beunruhigung angesichts schriller Töne der Vertriebenen-Präsidentin und anderer in Richtung unserer mittel- und osteuropäischen Nachbarn."

Alles in allem sollten der BdV und alle Ostdeutschen diese Debatte als Chance verstehen, sich endlich Klarheit darüber zu verschaffen, wie die maßgeblichen Bonner Politiker und Parteien tatsächlich zu ihren Forderungen stehen und was von ihnen an Unterstützung künftig überhaupt noch zu erwarten ist. Auf deutliche Kritik an den jüngsten Verlautbarungen aus Warschau kann dabei sicher nicht verzichtet werden. Man muß Erika Steinbach Recht geben, wenn sie das Unverständnis bei den Vertriebenen in die Worte faßt: "Es ist nicht hinzunehmen, daß der polnische Sejm die offenen Vermögensfragen jetzt plötzlich für anantastbar erklärt, obwohl das Auswärtige Amt nach eigenem Bekunden nach der Verabschiedung des Bundestagsbeschlusses diese Fragen gegenüber der Republik Polen angesprochen hat. (...) Die Vertriebenen können nicht verstehen, warum das Parlament eines christlich geprägten Volkes, welches selbst jahrzehntelang unter einer menschenverachtenden Diktatur gelitten hat, sich so vehement gegen Versuche stemmt, Völkerrechtsverletzungen gemeinsam zu heilen. (...) Entscheidend ist die Frage der Gerechtigkeit. Vor dem Hintergrund, daß sich Europa als Wertegemeinschaft versteht, ist es zudem unklug, gutwillige Wegbereiter mit solchen Beschlüssen vor den Kopf zu stoßen. Auf diese Weise wird Polen den Weg nach Europa nicht gehen können."


 
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