© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/98 10. Juli 1998

 
 
Frankreich: Regierung will soziale Pulverfässer in Vorstädten entschärfen
Kommunen in der Krise
G. Andres/M. Schmidt

Zuletzt hat sich das enorme Konfliktpotential französischer Vorstädte in drastischer Weise gezeigt, als es am Rande der Fußball-WM in Marseille und St. Etienne zu brutalen Massenschlägereien zwischen englischen Hooligans und eigens aus den Vororten zusammengeströmten jungen Nordafrikanern gekommen ist.

Daß eine echte Sanierung der von häßlichen Wohnblöcken, hohen Arbeitslosen- und Kriminalitätsquoten, Drogen und Ghettobildungen nordafrikanischer Einwanderer geprägten Problemzonen am Rande der großen Städte auf Dauer nicht durch eine Politik kurzfristiger staatlicher Kriseninterventionen erreicht werden kann, ist keine neue Erkenntnis. Seit mittlerweile über einem Jahr laufen in der sozialistischen Regierung großangelegte Planspiele, wie man diesem sozialen Kardinalproblem Herr werden kann. Das selbstgestellte Ziel heißt: "Wiederaufbau von Städten mit menschlicher Dimension".

Der Bürgermeister von Orléans, Jean-Pierre Sueur (PS), wurde mit der heiklen Aufgabe betraut, als Vorsitzender einer speziellen Kommission einen Bericht über das Werden der französischen Städte zu Beginn des dritten Jahrtausends zu erstellen. Als Ergebnis konnten im Frühjahr zwei stattliche Bände von je 400 Seiten vorgelegt werden, in denen sich schwarz auf weiß vieles von dem wiederfand, was der gesunde Menschenverstand dem normalen Franzosen schon lange als richtig empfohlen hatte. So hätte es keines besonderen Ausschusses bedurft, um festzustellen, daß das Wohnen in bestimmten Vierteln so mancher Städte geradezu lebensgefährlich geworden ist. Es vergeht kaum eine Nacht, ohne daß irgendwo ein Auto in Flammen aufgeht – in Straßburg waren es allein in der letzten Silvesternacht ungefähr 50 – oder daß ein Bus mit Steinen beworfen und dessen Insassen tätlich angegriffen werden. Auch die Notwendigkeit zur Einrichtung des Postens eines "Staatssekretärs für städtische Angelegenheiten", der mit dem Planungswirrwarr und der verhängnisvollen Unentschlossenheit im Bereich der Stadtentwicklung Schluß machen soll, liegt auf der Hand.

Die Sueur-Kommission war im Februar mit der Forderung an die Öffentlichkeit getreten, der Staat solle über einen Zeitraum von zehn Jahren jährlich 35 Milliarden Francs (etwa 10 Milliarden DM) zur Ursachenbekämpfung bereitstellen. Eine ehrgeizige Finanzplanung also – zu ehrgeizig angesichts der leeren französischen Staatskasse. Ende Juni wurden nun im Zuge der Festlegung der Leitlinien zur Lösung des Problems der Trabantenstädte von der sozialistischen Regierung insgesamt 30 Milliarden Francs in Aussicht gestellt. Auch diese Summe ist noch keineswegs gesichert, zumal sie ungewisse finanzielle Erwartungen an die Kommunen sowie fragliche Mittel aus dem EU-Strukturfonds einschließt.

Dem auf einen Zeitraum von fünf Jahren angelegten Projekt der Sueur-Kommission und den kürzlich verabschiedeten Leitlinien zufolge soll das moderne Stadtbild, wie es vor rund zehn Jahren mit verheerender Bauwut geschaffen wurde, wegradiert werden. Nicht mehr sanierbare Hochhausklötze sollen verschwinden (manche sind bereits gesprengt worden) und an ihrer Stelle mittels neuer Kredite für den sozialen Wohnungsbau "menschenwürdigere" Siedlungen entstehen. Parallel hierzu will man die Kriterien für die Vergabe dieses Wohnraums lockern, um so auch den Zuzug sozial höherer Schichten in die Problemgebiete zu fördern. Jungen Leuten aus den besonders stark von Arbeitslosigkeit betroffenen Quartiers und Cités sollen 20 Prozent jener Stellen freigehalten werden, die im Herbst 1997 im Rahmen des Programms "Beschäftigung für Jugendliche" angekündigt wurden. Des weiteren wird anerkannt, daß es (nicht nur) in diesen Vierteln an Polizeirevieren mangelt, die Tag und Nacht geöffnet haben. Die vorhandenen Wachen schließen bereits um 18.00 Uhr, obwohl jeder weiß, daß sich die meisten Unruhen erst später ereignen. Auch soll das Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln, Postämtern und Sozialstationen erweitert werden.

Jahrzehntelang sind auch in Frankreich nach US-amerikanischem Vorbild die Stadteinfahrten mit Handels- und Industriezonen verunstaltet worden, die in wirtschaftlicher Hinsicht allerdings nicht nur Nachteile hatten. Auch hier soll angesichts der Tatsache, daß diese Zonen das Geschäftsleben im Zentrum stark eingeschränkt haben, eine nachdrückliche Korrektur erfolgen. So sollen die Stadtkerne, die man kurzsichtig in überdimensionierte Fußgängerzonen, sprich: riesige Freilichtmuseen, verwandelt hat, neu belebt werden.

Ohne es aus politischer Rücksichtnahme klar auszusprechen, läuft der Sueur-Bericht darauf hinaus, daß die städtische Entwicklungspolitik des Staates in den zurückliegenden Jahrzehnten einem Fiasko gleicht. Da aber die Kompetenzfragen zwischen Region und Staat bzw. zwischen Region und Département nach wie vor ungeklärt sind, ist eine Lösung der jetzt auch offiziell anerkannten gravierenden Probleme trotz aller guten Ansätze unwahrscheinlich.

Gerade im Hinblick auf die Städtesanierung erweist sich die Notwendigkeit einer starken, an Kompetenzen und Finanzmitteln gut ausgestatteten Region. Die Handlungsmöglichkeiten und das Urteilsvermögen eines weit entfernt sitzenden Staatssekretärs sind eng begrenzt. Daß aber Paris keine starken Regionen will, geht schon aus dem Regionalwahlsystem hervor. Gewählt wird nicht auf gesamtregionaler Ebene, sondern nur auf der untergeordneten Ebene der Départements. Wenn man bedenkt, daß in Frankreich manche Regionen aus bis zu acht Départements bestehen, liegt der Verdacht nahe, daß der zentralistische Staat eine gewisse Konkurrenz zwischen diesen begünstigt – zum Nachteil der Regionen. Ein erfolgversprechendes Rezept gegen die sozialen Unruhen in den Vorstädten wäre eine Kombination der vielen guten Einzelmaßnahmen des Staates mit mutigen Antworten in der Ausländerfrage und vor allem mit einer massiven politischen Aufwertung der Regionen.


 
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