© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/98 10. Juli 1998

 
 
Film: Zum 80. Geburtstag von Ingmar Bergmann
Archaisches Monument
Ulrich Krien

Der schwedische Regisseur Ingmar Bergman wird 80 Jahre alt – Zeit, auf sein Lebenswerk zurückzublicken, was nicht ohne persönliche Erinnerungen geht.

1970: Unter der Regie eines jungen, "progressiven" Lehrers finden im Gymnasium einer süddeutschen Stadt regelmäßig Filmvorführungen statt; alles, was damals avantgardistisch, sozialkritisch, emanzipatorisch war, wird gezeigt, Filme von Chabrol, Antonioni, Visconti, Agnes Varda, Jean Luc Godard, Alexander Kluge, Buñuel, Rainer Werner Fassbinder, und vor allem auch die Filme Ingmar Bergmans, die sich einfachen Erklärungsversuchen souverän entziehen.

Auf diese Weise erlebte ich meinen ersten und nachhaltig prägenden Bergman-Film: "Das siebte Siegel", eine preisgekrönte Arbeit aus dem Jahr 1956, in der der evangelische Pfarrerssohn Bergman (er teilt diese Herkunft mit Größen wie Nietzsche, Benn, Hesse, Strindberg) vor der Kulisse der Kreuzzüge Fragen nach der Bewältigung einer chaotischen Welt, der Suche nach Glück und der Begrenztheit unseres Lebens angesichts des Todes stellt. Der Filmtitel ist der Offenbarung des Johannes im Neuen Testament entnommen ("Und da das Lamm das siebte Siegel auftat, entstand eine große Stille im Himmel"), das Öffnen des Siegels setzt die apokalyptischen Zerstörungen frei. Auflösung, Untergang und Tod spiegeln sich in den Filmszenen wider, die Atmosphäre des Mittelalters mit religiösem Wahn, Hexenverfolgungen, Visionen und tiefer Religiosität ist meisterhaft eingefangen. Die sensible und zurückhaltende Art, mit der sich der erklärte Atheist Bergman (Zitat 1974: "Früher habe ich mit Gott gerechnet, aber der Himmel ist leer, da bin ich mir ganz sicher.") religiösen Themen annähert, ist angesichts heutiger Ehrfurchtslosigkeit vor dem Numinosen mehr als wohltuend. Nach zehnjähriger Teilnahme am Kreuzzug kommt der Ritter Antonius Blok samt Gefolge resigniert nach Schweden zurück. An der Küste begegnet ihm der Tod, der ihn holen will. Dem Ritter gelingt es, sich einen Aufschub zu verschaffen, indem er dem Tod eine Schachpartie anbietet. Bildern voll von drastischem Realismus, erinnernd an die Barockliteratur mit ihren beiden Polen Sinnesfreude und Vergänglichkeit. Der Film mündet in ein großes Finale, bei dem alle Beteiligten, mit dem Tod konfrontiert, nochmals über ihr Leben Rechenschaft abgeben müssen. Nur der Gaukler Jof mit Frau und Kind bleibt verschont, denn er sah in einer Vision den Tod schachspielend beim Ritter sitzen und flüchtete – und die letzte Szene zeigt Jof wieder mit einer Vision, wie unter katholischen Totengesängen der Tod alle Begleiter des Ritters in die Ewigkeit führt. Jof wird von seiner Frau, der er seine innere Schau mitteilen will, lächelnd auf die sichtbare Wirklichkeit hingewiesen ("Was siehst du denn wieder für Sachen!"), während sein kleines Kind wie ein Sinnbild des Lebens der Morgensonne entgegenläuft.

Bergman kleidete Fragestellungen, die so modern wie zeitlos sind, nochmals in ein historisches Gewand in dem Film "Die Jungfrauenquelle" (1959), der eine alte schwedische Legende zur Vorlage hatte. Auch hier meisterhafte Darsteller (Max von Sydow), ein genaues Erfassen der Zeit (Bergman verzichtete völlig auf Filmmusik, nur die religiösen Gesänge eines Darstellers sind manchmal neben den Geräuschen der Natur zu hören) und eine drastische Handlung mit Vergewaltigung, Mord, anschließender Rache, bei der im Hintergrund unüberhörbar die Frage nach christlicher Vergebung mitschwingt. Für einen Religionswissenschaftler, der die Übergänge vom Heidentum zur Christianisierung in Skandinavien studieren will, ein Steinbruch – und für die damalige Zeit ein Skandal, denn die Vergewaltigungsszene führte dazu, daß der Film erst ab 18 Jahre freigegeben wurde.

Bergman war in den 50er Jahren ungemein kreativ und vielfältig, was sicherlich damit zu tun hatte, daß er sich selbst als Suchender verstand, der existentielle Lebens- und Sinnfragen zum Gegenstand seiner Filme machte. In "Abend der Gaukler" (1953) wird die existentialistische Philosophie, die damals Hochkonjunktur hatte, gekonnt in ein Zirkusmilieu übertragen. Bergman deutete hier bereits ein Thema an, das ihn 20 Jahre später heftig beschäftigte: die Beziehung der Geschlechter zueinander. 1955 schuf er den bezaubernd-hintergründigen Film "Das Lächeln einer Sommernacht", der Anleihen bei William Shakespeares "Was ihr wollt" macht. Der Witz ist treffend, nie platt, und zielt auf alle Gesellschaftsgruppen. Die Szene, in der sowohl der puritanisch-asketische, in unglücklichem Verlangen sich verzehrende Theologiestudent wie sein frivol-lebenslustiger Vater karikiert werden, ist unvergeßlich. Bergman hat auch Humor.

1957 drehte er seinen wohl berühmtesten Film "Wilde Erdbeeren". Ein alter Professor wird auf der Fahrt zu einer Ehrendoktorverleihung mit unterschiedlichsten Personen konfrontiert, an denen er wie in einem Spiegel die Realität seines eigenen äußerlich erfolgreichen, innerlich aber gefühlsarmen und lieblosen Lebens erkennt. Bergman übersetzt Freuds und Jungs Traumdeutungen in grandiose Bilder, zeigt wieder in einzelnen Gestalten unterschiedlichste Wertvorstellungen, wandert durch die Geschichte und verwendet leitmotivisch einen Satz aus Ibsens "Wildente": "Nehmen Sie einem Durchschnittmenschen die Lebenslüge, dann nehmen Sie ihm sein Glück." Aber der alte Mann erhält eine späte Chance zur Umkehr und zur Erneuerung seines Lebens, vermittelt durch drei liebevoll geschilderte junge Leute, die per Anhalter durch Schweden reisen. Der Theologe unter ihnen streitet wild mit dem Existentialisten, und das Mädchen kommentiert das ganze halb spöttisch, halb hilflos: "Sie sind wieder über die Existenz Gottes ins Streiten gekommen und dann handgreiflich geworden." Aber die ehrlichen Gefühle der drei wecken in dem Professor lange Verschüttetes wieder zum Leben, und der Schluß läßt sogar eine christliche Interpretation zu – frei nach Paulus, der einmal schrieb, daß die Liebe mehr wert ist als der Glaube oder die Hoffnung.

Der Film "Das Schweigen" (1963) wurde ein europaweiter Skandal: Damals kontrollierte die Polizei das Alter der Kinobesucher wegen einiger heute harmlos wirkender Sexszenen. Bergman zeigte, daß jeder Versuch, der Einsamkeit und Beziehungslosigkeit durch ein ungezügeltes Ausleben der Sexualität zu entkommen, zum Scheitern verurteilt ist. Das Schweigen läßt sich "im Bett" nicht überwinden; der Film ist ein trostlos wirkender Bericht über menschliche Kälte, Leere, Entfremdung. Bergman drehte wie in einer Collage nur noch einzelne Bilder, die – im fundamentalen Unterschied zu seinen vorangegangenen Werken mit ihren klaren Handlungssträngen – in keinem Zusammenhang mehr stehen. Der Titel verwies aber nicht nur auf die Beziehungslosigkeit als ein Kennzeichen der Moderne, er zielte viel tiefer: Gott schweigt, und deshalb ist der Mensch dazu verurteilt, frei zu sein, wie es Sartre in den 40er Jahren festgestellt hatte. Das sahen damals nur ganz wenige, ab dieser Stunde galt Bergman aber als der große Tabubrecher in Sachen Sexualität. Anfang der achtziger Jahre nahm er mit dem lebensbejahenden Filmepos "Fanny und Alexander" seinen Abschied als Kinoregisseur.

Im Zeitalter der Videoclips und der Action Comedies wirkt Bergman wie ein Monument von archaischer Größe.


 
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