© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/98 10. Juli 1998

 
 
General Robert E. Lee: Ein Konservativer als Nationalheld der USA
Aristokrat aus dem Süden
Lothar Höbelt

Am 3. Juli 1863 fand die wohl berühmteste Infanterieattacke der amerikanischen Geschichte statt: Pickett’s Charge. 15.000 Südstaatler stürmten in der Mittagssonne über mehr als einen Kilometer offenes Feld gegen den Friedhofshügel von Gettysburg, hielten ihn für zehn Minuten und schafften es doch nicht. Mehr als die Hälfte von ihnen zählten als Verluste. Doch als sich Jahre nach dem Krieg Pickett verbittert über seinen Oberkommandierenden beschwerte: "Er hat meine Division verheizt", entgegnete ihm ein Kamerad verwundert: "Er hat sie unsterblich gemacht."

Als bei Gettysburg die geschlagenen Helden vom Friedhofshügel herabfluteten, stand dort ihr Oberkommandant und sagte einfach: "Boys, es ist alles meine Schuld. Ihr müßt mir helfen." Er hatte recht – es war seine Schuld: Die Hybris hatte ihn übermannt, und er hatte sich nach einer langen Serie von Triumphen auf genau das eingelassen, was man gegen gezogene Gewehre nicht mehr tun durfte: einen Frontalangriff, der alle Probleme lösen würde, wenn er gelang – der aber nicht gelingen konnte.

Auch damals ahnten viele, daß der Angriff ein fataler Fehler war, vielleicht sogar der entscheidende des ganzen Krieges. Doch weil der Gentleman auf dem grauen Pferd – und sogar den Namen des Pferdes kennen die Amerikaner heute noch – die Schuld von vornherein auf sich nahm, wagte es hundert Jahre lang niemand, ihm den Fehler vorzuhalten. Im Gegenteil: Die Überlebenden unter den ruhmreich Geschlagenen wurden sich des Kompliments bewußt, daß darin lag, von ihnen, von der Armee von Northern Virginia, mit großer Selbstverständlichkeit auch das Unmögliche zu erwarten.

Jeder Krieg der amerikanischen Geschichte hat seine Präsidenten hervorgebracht: Von George Washington über General Grant bis zu Dwight D. Eisenhower (und wer weiß, was mit Colin Powell noch passiert). Keiner von ihnen, nicht einmal Washington, reicht an Robert E. Lee heran. Dabei besteht zwischen beiden sogar eine familiäre Verbindung: Lees Schwiegervater war Washingtons Adoptivsohn. Lee war nicht bloß der brillantere Heerführer; er hatte, was anderen fehlte: die tragische Komponente. Der Süden ist der Teil Amerikas, der Niederlagen nicht bloß aus der überseeischen Geschichte kennt; die Region, in der man die eigene Geschichte (und die Architektur) in Vorkriegszeit und Nachkriegszeit einteilt und wo Niederlagen sind prägender sind als Erfolge.

Lee ist ein Säulenheiliger des Südens, "the marble man" – eine Gestalt wie aus Marmor, dabei eine Symbolfigur, der Heldenstatus auch im Norden genießt. (Im Zweiten Weltkrieg wurden Panzer nach ihm benannt: Technischer Zufall und nicht Berechnung, daß letztendlich mehr Shermans gebaut wurden als Lees.) Erst in den letzten Jahren hat sich im Zuge der allgegenwärtigen Vergangenheitsbewältigung, die sich auch in den USA breit macht und den alten Süden massiv ins Visier nimmt, wo nach bewährtem Muster Fahnen wegretuschiert und Gedenktage umbenannt werden, schüchterne Kritik selbst an ihm geregt. Nun liegt von Emory Thomas, Professor an der University of Georgia, eine Biographie über Lee vor, die sich als post-revisionistisch versteht: Lee hat Thomas seit seiner Jugend begleitet. Sein letzter Biograph, Douglas Freeman, der vor einem halben Jahrhundert drei massive Bände über ihn veröffentlichte, war selber beinahe zu einer Ikone geworden. In Thomas’ Jugend in Richmond, der alten Hauptstadt des Südens, sprach er jeden Morgen im Radio zur Weltlage.

Heldenverehrung hat ihre eigene Dialektik. Der Ritter ohne Fehl und Tadel ist bei längerer Betrachtung zu glatt, zu ebenmäßig, zu berechenbar und damit schon nicht mehr interessant . Hier hakt Thomas ein, der Lee nicht bloß als Militär würdigt, sondern als Person, nicht bloß den Helden einer verlorenen Sache, sondern – neben, unvermeidlicherweise in Amerika, seinen Flirts – eben auch den Bürger mit seinen politischen Präferenzen. Und auch da ergeben sich reizvolle Widersprüchlichkeiten.

Spätestens seit der Verfilmung von "Vom Winde verweht" sind wir es gewohnt, den Süden romantisch verklärt als aristokratische Lebensform zu sehen. Dabei waren die Pflanzer in der Regel Neureiche, ihre viktorianische Schnörksel Importware und ihre Güter vor einer Generation noch Wildnis. Der Süden war viel länger ein Teil des Westens geblieben, der Pioniergesellschaft. Einer Pioniergesellschaft, die zwar die Sklaverei kannte, aber ansonsten leidenschaftlich egalitär war und auf Unabhängigkeit bedacht, radikalliberal bis weit über den Nachtwächterstaat hinaus und dabei bibelfest und freikirchlich, weit entfernt von jeglicher "Amtskirche".

Nicht so Lee. Lee kam wirklich aus einer alteingesessenen Gesellschaft; er wohnte auf den Gütern Washingtons, gleich gegenüber der Hauptstadt, in Arlington, wo seither die USA ihren Heldenfriedhof eingerichtet haben. Allerdings gehörte Arlington nicht ihm, sondern seiner Frau: Lee war der klassische verarmte Junker aus guter Familie, der zum Militär ging. (Das Vermögen, das er sich mit der Zeit ersparte, ging im Krieg verloren.) Lee war ein "Federalist". Im Englischen bezeichnet dieses Wort nicht die Leute, die von Subsidiarität und Dezentralisierung schwärmen, sondern die eine Zentralgewalt wollen. Vor allem aber bezeichnete es die Konservativen: Die Federalists als Partei waren in Lees Jugend untergegangen und niemand wagte es mehr, offen an ihre Traditionen anzuknüpfen. Lee war einer, der an Hierarchien und Kontrolle glaubte, an eine natürliche Ordnung, der ein patriarchalisches Ethos verfocht, der Sorge und Fürsorge für seine Mitmenschen, aber im Rahmen vorgegebener sozialer Schranken. (Er war eigentlich gegen die Sklaverei, doch weil er sie für einen Teil der white man’s burden hielt.) Ein Mann des vornehmen Noblesse oblige. Eine seiner Schwächen als Kommandant, so Thomas, war daß er nie explizit befahl, sondern einfach davon ausging, daß seinen Ideen entsprochen würde.

Lee war ein Konservativer europäischen Zuschnitts. Ein Konservativer, für den die Unabhängigkeit des Südens nur das kleinere Übel darstellte. Sein Ideal war die Vorkriegszeit, die Rückkehr zur Idylle, die jegliche Sezession überflüssig machte. Lee war ein Offizier, der als Ingenieur, West Point-Absolvent und
-Kommandant, mit Laufgräben umgehen konnte, aber den Stil der Napoleonischen Ära liebte, ein General, der an die Entscheidungsschlacht glaubte. Doch das Königgrätz, die Schlacht als Gottesurteil, die alle schwebenden Fragen ein für alle Mal entschied, gelang ihm nicht.

Der Süden, mit seiner auf States Rights und rugged individualism aufgebauten Philosophie, stand und steht in der Tradition Jeffersons, des Autors der Unabhängigkeitserklärung, deretwegen die Amerikaner den 4. Juli feiern. Jefferson Davis, Lees Präsident, nicht zufällig nach dem Ahnherren der Demokratischen Partei benannt, glaubte an den amerikanischen Traum, daß sich das Selbstbestimmungsrecht letztendlich immer und überall durchsetzen, der Tyrannentrug vergehen muß. Davis hätte den Krieg deshalb am liebsten auch nach der militärischen Niederlage noch als Guerrillero fortgesetzt. Lee nicht: Er fürchtete Chaos und Auflösung gesellschaftlicher Ordnung. Da traf er sich mit Lincoln, dem Präsidenten, der auf seine Weise auch ein Konservativer war: Es war der unerfüllte Traum der raschen Versöhnung, die von beiden ausging.

Lee und Lincoln hatten noch etwas gemeinsam: Sie waren ratlose Gegner der Sklaverei. Lee wollte den Zeitpunkt ihrer Aufhebung der göttlichen Vorsehung anheim stellen. Lincoln spielte Vorsehung, als er als Kriegsmaßregel die Sklaven befreite, sprich: als "Kontrabande" beschlagnahmte. Zwar gibt es Historiker, die errechnet haben, daß vermutlich mehr Schwarze in konföderierten Armeen gekämpft haben als für den Norden. Jedenfalls erwarteten Lincolns Wähler von ihm, daß er die Befreiten in ihre Heimat entließ; ihre Heimat, das war für diese Afrika.

Die Beschäftigung mit der Geschichte wandelt oft seltsame Wege: Europa, mit seinen jahrhundertealten staatlichen Strukturen und Untertanentraditionen, verehrt Freiheitshelden. Staatsmänner oder auch bloß Staatsleute, die echte "Achtundvierziger" sofort vom Verfassungsschutz beobachten lassen würden, würdigen aus Anlaß des Revolutionsjahres den toten Hecker; Amerikaner, die Gralshüter der liberalen Demokratie, lieben die konservativen Gentlemen. Distanz schafft Ideale.


 
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