© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/98 10. Juli 1998

 
 
Null Toleranz für Kriminalität
Hans Jürgen Fätkinhäuser

Ein neutraler Beobachter der Kriminalitätslage in Deutschland kann sich nur irritiert zeigen. Wertet er die Zeitungen aus, so stößt er im Lokalteil reihenweise auf Meldungen, die nur den einen Schluß zulassen: Deutschland ist unter die Räuber gefallen. Einschägige Sendereihen, insbesondere auf den privaten Fernsehkanälen, verstärken diese Annahme. Wendet man demgegenüber seinen Blick in das Ressort Politik, wird dies alles sofort wieder relativiert. Das bedrohliche Phänomen der Organisierten Kriminalität zum Beispiel wird dort sogleich als fehlinterpretierte Auswirkung der offensichtlich als banal eingestuften Massenkriminalität entschärft. Gewaltorgien Jugendlicher entpuppen sich als pubertäre und damit zeitlich limitierte Erscheinungen, die sich als Versagen von Elternhaus und Schule und somit als gesamtgesellschaftliches Defizit unschwer deuten lassen. Die Verschandelung ganzer Stadtteile durch Farbschmierereien an den Hausfassaden lassen sich bei einigem Nachdenken durchaus künstlerische Aspekte abgewinnen, die, sogleich mit dem Signet Graffiti versehen, allenthalben beklatscht werden. Auch der in Mode gekommene Protest gegen Atomtransporte durch das Lahmlegen elektrisch betriebener Eisenbahnen mittels Wurfanker kommt in der politischen Bewertung einiger Pressekommentatoren schon ganz dicht an die Widerstandshandlungen der Geschwister Scholl heran.

Dieser durch Medien erzeugten Scheinrealität steht das Sicherheitsempfinden der Bürger gegenüber. Dieses wird geprägt durch individuelle Wahrnehmungen in Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis und endet in der mittlerweile gallenbitteren Partyfrage, wann, wem und wo das Auto, die Handtasche oder die körperliche Unversehrtheit abhanden gekommen ist. Auf eine Antwort muß man entgegen früheren Zeiten mittlerweile nicht mehr lange warten. Innen- und Sicherheitspolitiker oder solche, die sich dafür halten, versuchen diese Realität zugleich als subjektiv empfundene Bedrohungsszenarien zu bagatellisieren. Im Klartext heißt dies soviel wie: Der Bürger spinnt und soll sich nicht so anstellen. Eigenartigerweise bewegen die sich sowieso schon auf einem schwindelerregend hohen Niveau befindlichen Kriminalitätsstatistiken im Steigflug. Beschwichtigungsversuche verfangen daher nicht mehr. Der Bürger hat längst begriffen, daß die Situation auf der Straße das eine ist und Sonntagsreden unserer Politiker und Staatsrepräsentanten das andere.

Aber auch die Politik scheint lernfähig zu sein. Unlängst geißelte ein sich zur Wahl stellender Bürgermeister, obwohl er seit Jahren selbst das Ruder und damit die Sicherheitspolitik seiner Hansestadt in den Händen hielt, das Bild der städtischen Kriminallage und forderte lauthals rigorose Abhilfe. Aha, also doch, sagte sich der Wahlbürger und erteilte ihm sogleich durch sein Votum politischen Nachhilfeunterricht. Die Botschaft könnte in etwa gelautet haben: Wer die Zügel selbst hat schleifen lassen, sollte sich, wenn die Karre im Dreck steckt, nicht als Heilsbringer gerieren. Die Wahl in Hamburg macht partiell Mut. Zeigt sie auf der einen Seite zwar deutlich, daß die Politik sich von der Sicherheitsbefindlichkeit des Bürgers zunehmend entfernt hat, auf der anderen Seite wird aber deutlich, daß der Bürger sich dies nicht mehr geduldig gefallen lassen will.

Und schon greifen die eingangs gescholtenen Medien, die Trendwende opportunistisch witternd, zu vermeintlichen Patentrezepten. Eines davon kommt mit dem gängigen Slogan "Null Toleranz" daher und ist der Verbrechensweltmetropole New York entliehen. Dort hat die Umsetzung dieses Slogans in kürzester Zeit einen erstaunlichen Kriminalitätsrückgang herbeigeführt. Kaum geäußert, werfen sich die Gralshüter des liberalen Rechtsstaates in die Schlacht und höhnen lautstark und insoweit jedoch völlig zutreffend, daß die Zurechtweisung eines urinierenden Bettlers sich wohl schwerlich als Schlag gegen die Cosa Nostra zu erweisen vermag. Noch feinsinnigere Kritiker dieses Genres weisen darauf hin, daß sich in den Jahren des Kriminalitätsrückganges lediglich die Altersstruktur der männlichen Delinquenten verändert und so diesen erstaunlichen Rückgang hervorgerufen hat.

Wie auch immer, der kriminologische Ansatz dieser Null-Toleranz-Strategie ist sicher zutreffend und kann von jedem auf seine Schlüssigkeit überprüft werden. Man stelle lediglich ein ausgedientes Sofa auf den bis dahin gepflegten Bürgersteig. Dann verhindere man für zwei Wochen den Abtransport. Schließlich wird man angesichts des rasant anwachsenden Sperrmüllberges seine Straße kaum wiedererkennen. Was lehrt uns das? Der Mensch ist nicht von sich aus sozial und auf Ordnung geprägt. Er bedarf vielfältiger Verhaltensvorgaben, deren Einhaltung strikt und sanktionsbewehrt zu kontrollieren ist. Dies beginnt mit der Kindererziehung durch das Elternhaus, setzt sich in der Schule und in den sich daran anschließenden beruflichen Einrichtungen fort, bis hin zur vorgelebten Vorbildfunktion politischer und gesellschaftlicher Eliten.

Die heutige Realität ist dagegen geprägt von einer nie dagewesenen ungehemmten Gewaltbereitschaft bei Kindern und Jugendlichen, wobei der Einsatz von Waffen mittlerweile beinahe die Normalität darstellt. Jugendliche töten und entwickeln kriminelle Energien, die ansonsten nur in Kriminalfilmen zu erleben sind.

Entgegen der gesetzgeberischen Intention, wonach Heranwachsende, mithin die Achtzehn- bis Einundzwanzigjährigen, grundsätzlich wie Erwachsene zu behandeln und zu bestrafen sind, sind die Jugendgerichte längst dazu übergegangen, den Regel-Ausnahme-Tatbestand in sein Gegenteil zu verkehren. Fast ausnahmslos werden heutzutage Heranwachsende als retardiert und damit einem Jugendlichen gleich eingeordnet. Die Folge ist die Anwendung des Jugend- statt des Erwachsenenstrafrechts. Der Unterschied ist gravierend. Ein Mörder erhält beispielsweise nicht mehr eine lebenslange Freiheitsstrafe, sondern lediglich eine maximal zehn Jahre erreichende Jugendstrafe. Dabei ist die Haftentlassung nach Verbüßung der Hälfte schon so gut wie vorprogrammiert. Die Generalprävention (Strafe als allgemeine Abschreckung, Anm. d. Red.) ist damit in der Altersklasse der Heranwachsenden contra legem ausgehebelt. Der gleiche Mensch, der sich im zivilrechtlichen Bereich ohne Wenn und Aber zu verantworten hat, wird strafrechtlich auf die Stufe eines Vierzehnjährigen gestellt. Das bedeutet: Statt zur Besinnung und Einkehr mahnende und auch abschreckende Sanktionen zu verhängen, wird eine Erlebnispädagogik in der Karibik verschrieben – mit vorhersehbaren und auch prompt eintretenden Rückfällen. Befürworter derartiger aberwitziger Experimente kommen dann in einschlägigen Talkshows daher und erklären dem Fernsehvolk, vollmundig und im Brustton der Überzeugung, daß sich ja gerade an der beklagten rasanten Kriminalitätszunahme das Versagen der Generalprävention zeige; geradeso als ob es in den letzten Jahren je eine vernünftige Abschreckungsstrategie gegeben hätte.

Die Jugendrichter haben, wie oben dargestellt, längst den gesetzgeberischen Willen ignoriert und statt dessen ihren eigenen Rechts- und Erziehungsvorstellungen zum Durchbruch verholfen. Diese durch den Bundesgerichtshof höchst abgesegnete Fehlentwicklung kann nur durch ein neues modifiziertes Jugendgerichtsgesetz gestoppt und umgekehrt werden.

Justizpolitiker in den Ländern tragen sich mit dem Gedanken, Straftätern sogenannte elektronische Fesseln im Rahmen eines Hausarrests anzulegen und ihnen so die Einweisung in eine Haftanstalt zu ersparen. Diese Forderung ist systemimmanent und damit durchaus konsequent. Den Frontalangriff auf die Generalprävention bekommt man schon gar nicht mehr mit.

Wer sich angesichts solcher paradiesischen Zustände dann noch über den schwindelerregenden Zulauf ausländischer Krimineller nach Deutschland wundert, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen. Als Patentrezept dagegen wird neuerdings verstärkt von populistisch orientierten Wahlkämpfern sofortige Abschiebung von ausländischen Straftätern gefordert. Hierbei wird geflissentlich verschwiegen, daß in Deutschland der rechtliche Status von Ausländern in Verbindung mit großzügigster Prozeßkostenhilfe in der Vergangenheit so stark ausgebaut worden ist, daß die Umsetzung derartiger Forderungen häufig genug am Veto der Verwaltungsgerichte scheitert. Und was die Rechtsweggarantie nicht zu leisten vermag, wird dann eben durch eine faktische Verweigerungshaltung der Ausländer erreicht. So leiden einige Vietnamesen bei der Wiedergabe ihrer echten Personalien regelmäßig an einem unerklärlichen Gedächtnisschwund, der die Rückschiebung in ihr Heimatland verhindern soll. Lediglich die Frage nach ihrem Lebensalter wird gleichermaßen postwendend wie falsch beantwortet: unter einundzwanzig Jahren.

Fazit: Eine sich rückbesinnende Justizpolitik, die der Generalprävention den ihr gebührenden Platz zuweist und damit automatisch Fehlentwicklungen der Vergangenheit korrigiert, ist die äußere Klammer einer die Kriminalität zurückdrängenden gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Reagiert der Staat nicht, so wird ihm das Volk die Gefolgschaft versagen und entweder wie in Belgien engagiert auf die Straße gehen oder sich rechtsradikalen Rattenfängern oder gar der Selbstjustiz zuwenden. Dies zu verhindern, ist Aufgabe und Pflicht aller demokratischen Kräfte in unserem Staat.


 
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