© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/98 10. Juli 1998

 
 
Neue Politik: Das ehemalige RAF-Mitglied Horst Mahler über geistige Unfreiheit heute und ihre Wurzeln, über Linke und Rechte, über Staat und Nation – über seine eigene Gelassenheit
"Nur unsere Widersprüche sind Zeichen der Wahrheit"
Peter Krause/Dieter Stein/Thorsten Thaler

Herr Mahler, nach Ihrem ersten Beitrag in der jungen freiheit vor zehn Wochen wurden Sie gefragt: bekloppt oder rechtsradikal? Warum haben sie in der JF veröffentlicht?

Mahler: Ich kenne ja die Reflexe in der politischen und journalistischen Öffentlichkeit und die Verfemungen. Mir geht es aber gerade um die Verbote, mit anderen zu sprechen, und die Gründe für diese geistige Enge. Wer bestimmt, was politisch zulässig ist? Man muß miteinander sprechen, ganz egal, mit wem. Denk- und Sprechverbote sind immer Teil der etablierten Herrschaftsverhältnisse. Da wollen sich einige absichern gegen Änderungen, die ihre Positionen gefährden. Extreme Einstellungen werden aber durch Diskursverbote gerade gefördert. Es geht nicht darum, die Gesellschaft zu polarisieren, sondern um einen demokratischen Diskurs. Das bedeutet, jede andere Position zunächst als solche zur Kenntnis zu nehmen.

Aber auf einer öffentlichen Veranstaltung in der Freien Universität haben Sie Ihren JF-Beitrag gerechtfertigt, es wäre für diese Zeitung eine Zumutung gewesen, Ihre Passage über den Holocaust zu veröffentlichen. War das Unwissenheit oder Opportunismus?

Mahler: Ich habe einerseits die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß es nicht wenige Leser Ihrer Zeitung gibt, die die Erwähnung des Holocaust als störend betrachten für eine nationale Politik. Andererseits war es argumentativer Opportunismus meinerseits. Ich versuche, neue Gesprächspartner, gerade aus dem Kreis der Alt-68er, dort abzuholen, wo ich sie vermute. Dann bediene ich schon mal ihre Vorurteile, um ihnen dann im Gespräch zu zeigen, daß es Vorurteile waren.

Sie haben mit Ihren Beiträgen in der JF die Hoffnung verbunden, eine neue Streitkultur anzuregen. Was verstehen Sie darunter?

Mahler: Nehmen Sie zum Beispiel den Historikerstreit, in dessen Ergebnis ein hoch zu schätzender Wissenschaftler wie Ernst Nolte intellektuell hingerichtet worden ist. Ob er in seiner Argumentation einen sachlichen Fehler als Historiker gemacht hat, wage ich nicht zu beurteilen. Aber mit seinem Anliegen gehört ein solch bedeutender Wissenschaftler in die öffentliche Diskussion herein. Es war vielleicht kein Zufall, daß ein Mann wie Habermas, der Papst des "herrschaftsfreien Diskurses", den Startschuß gegeben hat für das Ende einer Debatte, bevor sie angefangen hatte. Habermas hat sich hier – im Streit mit und um Nolte – als intellektueller Hinrichter betätigt. Solche Unarten, den Streit nicht zuzulassen, müssen wir überwinden. Wir müssen uns über unsere Geschichte, über die deutsche Tradition wieder verständigen. Wenn man meint, einige Meinungen seien falsch, dann könnte man das in der Diskussion aufzeigen. Habermas hat das von Anfang an nicht versucht.

Was sind die Punkte, über die ohne Vorbehalte gestritten werden müßte?

Mahler: Politik setzt Streit, den Austausch der Argumente, das Überzeugen voraus. Mittlerweile wird die Meinung des anderen aber nicht mehr zugelassen. Wir müssen aber darüber streiten, was Politik heute in diesem Land mit diesem Volk bedeutet. Hat dieses deutsche Volk, zu dem ich mich zähle, ein Recht, sich selbstbewußt in die internationale Gemeinschaft einzubringen und eine interessenorientierte Politik zu machen? Oder soll es in vorauseilendem Gehorsam Erwartungen bedienen, die andere aus ihrer Interessenlage an Deutschland herantragen? Wenn wir das Schlagwort Globalisierung nehmen, wenn ein wildgewordener Turbo-Kapitalismus die Grundlagen dessen, was für uns Jahrzehnte lang maßgebend war, nämlich die Orientierung der Marktwirtschaft am Sozialen, zerstört, dann müssen wir uns der Frage nach dem Gemeinwesen, der Nation, stellen. Es dürfen keine Positionen von vornherein diskriminiert werden. Man sollte sich gegenseitig für so demokratisch gefestigt halten, um das Vertrauen zum Gespräch zu finden.

Wie stehen Sie zu dem Vorwurf, daß Sie einer intellektuell-politischen Schicht angehörten, die die geistige Enge in unserem Land gerade bewirkt hat? Anders gefragt: Ruft hier der Brandstifter nach der Feuerwehr?

Mahler: Gerade weil die Entwicklung in die Erstarrung geführt hat, haben wir die Pflicht, daraus zu lernen. Der Kampf mit Gewalt hat mir Erfahrungen gebracht, und das Scheitern hat einen Reflexionsprozeß ausgelöst. Was die RAF gemacht hat, das konnte es nicht sein! Ich sehe durchaus, daß die sogenannte Debattenkultur der 68er antidemokratische, sogar faschistoide Züge hatte, daß man Leute mit anderer Meinung niedergeschrieben hat. Der Austausch von Gedanken in einer förderlichen Atmosphäre wurde verhindert, Menschen wurden fertiggemacht. Ich glaube aber, daß die 68er über diese undemokratischen Tendenzen ihrer Bewegung in ein Nachdenken versunken sind. Das hindert nicht, daß eine jüngere Generation diese Gesprächsblockade aufgenommen und weitergeführt hat. Ich erinnere an die sogenannte Antifa, die unliebsame Veranstaltungen mit SA-Methoden zu sprengen versucht.

Sie werfen den 68ern vor, sie hätten den Boden für die Vollendung der Aufklärung bereitet, die zugleich deren Überwindung sein werde. Können Sie das Verhältnis von Vollendung und Überwindung erläutern?

Mahler: Ich gehe von einem Denken aus, dessen erster Satz lautet: Widerspruch ist das Zeichen der Wahrheit und Widerspruchsfreiheit das Zeichen der Unwahrheit. Hegel. Alle mit Autorität an den Menschen herangetragenen Gebote, Wertvorstellungen usw. mußten erst in Frage gestellt werden. Sie werden wieder wirksam, wenn sie durch eigenes Nachdenken erkannt und angenommen worden sind. Ich meine auch, daß vieles, was von den alten Glaubensinhalten und Wertvorstellungen untergegangen ist, uns an unserer eigentlichen Substanz fehlt. Unsere geistige Existenz kann jetzt nur noch durch eigene philosophische Anstrengung und durch den Diskurs wiederhergestellt werden. Deshalb hoffe ich, daß die negative Entwicklung, die '68 eingesetzt hat, auch von uns überwunden wird. Es geht, auch da komme ich von Hegel her, in der Geschichte vernünftig zu. Wir absolvieren Stadien einer Entwicklung: Altes überwinden und Neues gewinnen als Entwicklung im Bewußtsein der Freiheit. Und in diesem Fortschrittsprozeß hat '68 seine Bedeutung, indem es alles in Frage gestellt hat. Das war der erste Schritt zur Erkenntnis.

Sie sehen die Ergebnisse der 68er-Bewegung als Hölle, als geistiges Vakuum. Die sittliche Substanz sei verflogen. Das klingt eher nachVerfall als nach dialektischem Fortschreiten.

Mahler: Etwas verfällt, aber das bedeutet nicht das Ende. Es wird etwas Neues entstehen. Und Hölle ist für mich eine Metapher, die aussagt: Wir haben das Verständnis unserer selbst verloren. Ich glaube, wir sind gehalten durch ein höheres Wesen, man mag es Gott oder absoluter Geist nennen, und wir müssen uns im Verhältnis zu diesem Wesen begreifen und nicht als taumelnde Individuen, die meinen, da sei nur noch das Nichts. Diese Angst, diese totale Verlorenheit, das ist die Hölle. Soziale und politische Modelle helfen nicht weiter, wenn wir uns dieser geistigen Problematik nicht stellen. Sonst bleibt der Nihilismus.

Sie kritisieren auch die geistigen Grundlagen der Moderne, die Technisierung des Denkens. Trotzdem soll das Wahre aus der Moderne wachsen?

Mahler: Zunächst: ich kritisiere den Fortschrittsbegriff, der von der Aufklärung herkommt, ganz entschieden. Er ist ein Teil des Übels. Wir beurteilen die Gegenwart immer aus der Sicht der Zukunft und finden sie ungenügend. Wir haben ein negatives Verhältnis zu dem, was ist und wie es geworden ist, und sind nicht in der Lage, im Jetzt zu leben. Das war ein großer Fehler der 68er, das utopische Denken. Sie haben nichts zugelassen, was das lichte Zukunftsbild in Frage zu stellen wagte. Gollwitzer hat später die Frage gestellt: Was wäre, wenn alles das, was wir uns vorgenommen hatten, verwirklicht worden wäre? Die Antwort war: Die Menschen hätten sich vor Langeweile umgebracht. Eine utopische Form der Hölle. Eine völlig lichte Zukunft ist auch etwas Bedrohliches. Aber wenn man das erkennt, wenn wir von dem einseitigen Fortschrittsmythos loskommen, können wir die Gegenwart realistisch gestalten. Mein Fortschrittsglaube ist mit Hegel ein ganz anderer: Nach der "Nacht der Aufklärung" kommt der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit.

Ein metaphysischer Freiheitsbegriff also?

Mahler: Die Erkenntnis, wer wir sind, nämlich Teil des göttlichen Wesens, erlaubt uns, den Menschen anders zu sehen. Dieses Selbstbewußtsein ist ein Fortschritt im Freiheitsbewußtsein. Mir hat dieses Freiheitsverständnis gegen ein Denken, das wissenschaftlich verformt ist, erlaubt, mit anderen zu reden, die nicht meiner Meinung waren.

Woher kommt gerade in Deutschland die eigenartige Unfreiheit im politischen Streit? Aus einem fehlenden Freiheitsbewußtsein?

Mahler: Sicher ist die geistige Unfreiheit im heutigen Deutschland besonders ausgeprägt, aber sie ist eine allgemeine moderne Erscheinung. Und die hängt mit einem modernen Denken als Suche nach unbedingter Widerspruchslosigkeit zusammen. Dieses Denken trennt den anderen von sich ab, ermöglicht eine projektive Theoriebildung. Das Gemeinsame wird negiert, das Übel wird als Schuld des jeweils anderen gesehen. Die Lösung liegt nahe: der andere muß aus dem politischen Spiel verschwinden, was bis zur physischen Vernichtung führen kann. Der Kapitalismus aber wird nicht beseitigt, indem wir die Kapitalisten gesellschaftlich oder gar physisch vernichten. Da herrschen geistige Fundamente, die ich nicht mehr tragen kann.

Sie haben wie vor 30 Jahren eine antikapitalistische Grundhaltung, mit der Sie sogar eine mögliche Annäherung von rechts und links begründen? Wie neu ist in bezug auf Wirtschaft Ihre Neue Politik?

Mahler: Die RAF war damals konsequent. Sie wollte die Macht des Kapitals brechen. Heute sehe ich das anders: das Kapitalverhältnis schließt den Arbeitnehmer ein, es geht darum, und das kann nur aus einem neuen Denken heraus entstehen, den Markt zu hegen. Sonst wird er lebensfeindlich.

Wer soll den Markt hegen?

Mahler: Der Staat! Nur auf dieser Basis sind auch Interessen international zu verteidigen. Wenn wir deutsche Interessen auf dem Weltmarkt vertreten wollen, brauchen wir einen deutschen Staat.

Nun ist Staat nicht gleich Staat. Die Linke versteht darunter meist allein den Sozialstaat, während sie das Gewaltmonopol in Frage stellt.

Mahler: Der Staat ist zunächst die absolute Gewalt. Er muß das Zusammenleben des Staatsvolkes regeln, er zwingt widerstrebende Kräfte in einen friedlichen Prozeß. Wo das nicht stattfindet, gibt es keine positive Lebensform. Ob der Staat danach die Aufgabe hat, soziale Gerechtigkeit herzustellen, ist eine andere Frage. Was aber heißt soziale Gerechtigkeit? Werden in unserem Staat nicht nur über die Parteien und Gewerkschaften und Verbände bloß Gruppeninteressen vertreten, die dem Gemeinwesen schaden? Der Staat muß für Umverteilung sorgen, aber in Grenzen: an die wirklich Bedürftigen. Aber um solche Fragen umfassend zu diskutieren, muß man sich von politischen Schablonen lösen: Rechts? Links?

Aber soll man Unterschiede einebnen? Eine rationale Staatstheorie unterscheidet sich von einem Staatsverständnis, das den Staat nicht als Summe der Individuen deutet und bloß über Aufgaben definiert, sondern als Institution, um auch mit Hegel zu reden, des Volksgeistes sieht. Staat ist aus dieser Sicht auch gefügt durch Tradition, Kultur.

Mahler: Die Linke war lange in der letzten Konsequenz marxistischer Theorie staatsfeindlich. Sie hatte da eine unerkannte Nähe zur liberalen Staatstheorie. Ich sehe das mittlerweile anders. Der Staat ist das Dasein des Rechts als Macht. Und er ist noch mehr: Der Staat ist das Dasein Gottes. Der Staat gibt uns das Recht als Freiheit. Und wir in Europa leben als Völker in Staaten. Diese ruhen auf Tradition und einem kulturellen Verständnis. Europa besteht aus einer Vielfalt von Staaten. Wenn wir gleich werden, sterben wir den kulturellen Wärmetod.

Sie sehen also den Staat als Nationalstaat?

Mahler: Wo jeder sein Interesse friedlich zu verwirklichen sucht, da ist die Nation im Verhältnis zu anderen. Es gibt Unterschiede, Gott sei dank. In Europa bilden Völker Staaten. Diese sind traditionell keine Vielvölkerstaaten. Da spielen, viel mehr als in den USA etwa, Blutsbande und Abstammungen eine Rolle. Die Völker in Europa haben noch eine gewisse Homogenität. Die Juden dagegen waren sehr lange ein Volk ohne Staat. Ich glaube, daß der Theorie, die auf Marx zurückgeht, deshalb ein Verständnis für den Nationalstaat fehlt, und das ist noch heute ein Problem der Linken.

Verstehen Sie sich heute als Linker?

Mahler: Ich halte diese Begriffe für problematisch. Sie sind zu plakativ. Die linke Utopie, wenn sie so wollen, halte ich nicht mehr für wünschbar, auch ökonomisch nicht. Warum ist es so schlecht, seine Arbeitskraft zu verkaufen? Es kommt freilich darauf an, humane Lebensbedingungen für alle zu schaffen. Aber wenn ich mich unbedingt einordnen soll, dann würde ich meine Position als Integralismus beschreiben: Das Ganze in den Blick nehmen, immer wissen, daß man nur ein Teil ist, der aber zu einem Ganzen gehört. Dieses Denken vom Ganzen her ermöglicht mir, die Extreme zu verstehen und das Gespräch zu suchen. Ich kann Extremisten nicht nur gut verstehen, sondern ich trage, weil ich eine Entwicklung durchgemacht habe, auch die Hoffnung in mir, andere überzeugen zu können, das Extreme nicht als die Wahrheit zu verkennen.

Dieser geistige Universalismus ermöglicht also einen realen Partikularismus?

Mahler: Auf der nationalen Ebene erkenne ich an, daß das deutsche Volk besondere Interessen hat. Es muß sie wirksam vertreten, aber im Bewußtsein, Teil eines Allgemeinen zu sein. Und es muß die Chance wahren, sich als unterscheidbares Volk zu erhalten.

Deutschland wird 1999 noch mehr Kompetenzen an die EU abgeben. Hat dieser Staat noch Zukunft?

Mahler: Maastricht wird eine schlimme Entwicklung einleiten. Wir geben mit der D-Mark ein ganz wichtiges politisches Instrument zum Ausgleich von Ungleichgewichten des wirtschaftlichen Prozesses in Deutschland leichtfertig aus der Hand. Das war die Grundlage für das, was man unter Sozialpolitik verstanden hat, für den inneren Frieden. Kohl hat mit Maastricht eine Kapitulationsurkunde unterzeichnet. Er wird nicht als Begründer der europäischen Einheit in die Geschichte eingehen, sondern als ein Zerstörer der Nation und der europäischen Einheit. Die Währungsunion vor der politischen Union zu vollziehen, das kann nur schief gehen. Es sind Mittel, deutsche Interessen friedlich zu wahren, aufgegeben worden.

Sind Sie optimistisch, wenn sie an die politische Zukunft denken?

Mahler: Vielleicht ist alles zu spät. Aber diese Denkweise ist mir eigentlich fremd. Man muß immer versuchen, aus der gegebenen Lage zu einer Lösung zu kommen. Und darüber nachzudenken, halte ich für notwendig. Und das würde ich mit Ihnen, aber auch mit denen aus dem Kreis der Alt-68ern, mit allen denen, die sich um unser Gemeinwesen Sorgen machen, gern tun. Es geht um das Nachdenken über eine neue Politik.

Es stört Sie nicht, als politischer Rechter bezeichnet zu werden?

Mahler: Je stärker dieser Knüppel geschwungen wird, je mehr auf diejenigen eingeschlagen wird, die sich alten Denkmustern nicht beugen, um so stumpfer wird die Waffe werden. Denn es werden mehr werden, die nicht mehr wie gewohnt mitspielen. Wir machen uns doch etwas vor. Wenn die überwiegende Mehrheit der Brandenburger sagt, sie sei stolz, Deutscher zu sein, und das von der eigenen Landesregierung als Rechtsradikalimus bekämpft wird, dann läuft etwas falsch in unserm Land. Ich würde sagen: Brandenburg nach vorn! Und daraus etwas Positives machen, nicht sofort die häßlichen Deutschen herbeireden. Erst ein in seinen nationalen Bestrebungen unterdrückter Deutscher wird unberechenbar. Ein national ungefestigtes Deutschland ist für seine Nachbarn immer gefährlich. Wir brauchen ein gesundes Nationalbewußtsein: im Einklang mit unserer Vergangenheit.

Und der Holocaust? Er war doch gerade das Ungeheuerliche, das den Bruch mit der gesamten Tradition legtimieren sollte.

Mahler: Wer sagt, der Holocaust sei das schier Unbegreifliche, der macht ein Nachdenken darüber unmöglich. Dadurch wird das Übel nur noch schlimmer. Wir sollten diese Päpste, die den Holocaust zum Götzen machen, aus ihren Positionen herausbringen. Wenn es stimmt, daß es in der Geschichte vernünftig zugeht, muß man auch die Frage stellen nach der Vernunft im Holocaust. Das ist eine ganz schreckliche Frage, aber wir müssen das Grauen begreifbar machen: damit es sich nicht wiederholt.

Wo liegen die Grenzen des politischen Gesprächs?

Mahler: Reden kann ich mit allen. Politische Grenzen ziehe ich aber da, wo die Erwägung einer Diktatur ins Spiel kommt, wo gesagt wird, die Demokratie könne die Probleme, etwa die Bewahrung der Natur und der Gattung, nicht mehr lösen; egal ob diese Gedanken aus der rechten, linken oder ökologischen Ecke kommen. Ich bin überzeugt, daß dann das Gegenteil herauskäme: alles würde schlimmer werden. Wir können uns auch beschränken, wenn wir die Notwendigkeit dazu erkennen. Wir brauchen ein freiheitliches Modell. Die Gedanken sind frei, auch wenn sie gefährlich sind.

Liegt nicht in der Bereitschaft zum offenen Gespräch mit allen über alles die Gefahr, unvereinbare Differenzen kleinzureden?

Mahler: Mit allen reden, heißt nicht, mit allen übereinstimmen. Aber der eigene Standpunkt wird ständig mit anderen konfrontiert. Gegensätze werden so begreiflicher, Lösungen erst möglich. Das hat nichts mit Friede, Freude, Eierkuchen zu tun. Aber ich werde auch keine Norm akzeptieren, die mir vorschreibt, mit wem ich reden darf und mit wem nicht. Das Nicht-reden-Wollen ist etwas anderes als das heute so penetrant im Vordergrund stehende Nicht-reden-Dürfen. Wir leben in einer beinahe totalitären Meinungsdiktatur. Das ist zwar ziemlich unblutig. Aber wenn jemand, der sich dem, was einige als politisch opportun ausgeben, nicht beugt, seinen Job verliert, nicht mehr publizieren kann, dann bedeutet das schlimme geistige Unfreiheit.

Ihnen wurde ein Lehrauftrag an der Freien Universität versagt, weil Sie in der JUNGEN FREIHEIT geschrieben hatten?

Mahler: Ja, das ist Teil einer unfreien Kultur, und die muß zuerst verschwinden. Denn sonst kann kein politischer Prozeß in Gang kommen, der zur Lösung von Problemen führt.

An welche politischen Formen denken Sie, um den Parteienstaat, den Sie auch als Scheindemokratie bezeichnet haben, zu reformieren?

Mahler: An einen Volkskongreß für ein neues Deutschland. Es gibt viele Menschen, die über die Probleme in unserem Land nachdenken und zu ähnlichen Ergebnissen gekommen sind. Die finden aber nicht zueinander, weil der Diskurs unterbunden ist. Ich denke auch an einen virtuellen Runden Tisch. Wichtig ist, daß der Meinungsaustausch wieder stattfindet. In der jetzigen politischen Struktur sind die Probleme jedenfalls nicht lösbar.

Sie haben kürzlich behauptet, Sie hätten sich eigentlich nicht gewandelt. In einem JF-Beitrag haben Sie geschrieben, die 68er wollten die Tugendhaftigkeit ihrer Elterngeneration entlarven. Nun waren die 68er von der gleichen dogmatischen Tugendhaftigkeit, die sich bis zum jakobinistischen Terror steigerte. Ist das nicht gerade das Gegenteil der Freiheit, die Sie jetzt meinen?

Mahler: Wenn gesagt wird, Mahler sei nun ein Proselyt oder sei nun ein Renegat, das ist so reaktiv und abwertend. Das brauche ich mir nicht anzutun. Natürlich habe ich mich geändert. Halten sie mal Ihre Gedanken an. Und natürlich hatte ich stets eine Menge Input, die ganzen Geschichten, die da gelaufen sind… Ich habe eine Entwicklung durchgemacht, aber nicht derart, daß ich mich in politische Muster einordnen ließe. Ich stehe heute auf einem anderen Standpunkt als ’68. Es wäre schlimm, wenn es anders wäre.

Gewandelt hat sich also vor allem die Grundlage Ihres Denkens, die offensichtlich jeder Dogmatik aus dem Wege gehen will?

Mahler: Deshalb sage ich auch Neue Politik. Eigentlich ist das alles alt, wir müssen uns darauf besinnen. Ich komme stark von Hegel her: der Widerspruch als das Zeichen der Wahrheit. Diese Art zu denken, ist für mich schon früh gegen Marx eine völlig neue Erkenntnis gewesen.

Kürzlich war über Sie von ehemaligen "Kampfgenossen" zu lesen, Sie seien aus einem Überschwang der Begeisterung in einen Überschwang der Verbitterung gekommen. Sind Sie verbittert?

Mahler: Das Gegenteil ist der Fall, ich bin von einer Gelassenheit, die andere zum Wahnsinn treibt. Die meinen, man müsse wieder zur Waffe greifen. Wenn das eine Lösung wäre für unsere Probleme, dann würde ich es auch tun. Aber es ist keine Lösung! Es würde alles nur viel schlimmer machen. Wir müssen andere Wege gehen, und die verlangen Gelassenheit. Mein Antrieb ist nicht die Verbitterung, sondern die Verantwortung.


 
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