© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/98 17. Juli 1998

 
 
Deutsche Literatur: Die Wachablösung des Utopie-Projekts
Keine neue Stunde Null
Andrzej Madela

Wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten wirkte jüngst die Nachricht, daß der Träger des diesjährigen Preises des deutschen Buchhandels Martin Walser heißt. Daß dem gehobenen Feuilleton nicht mehr viel dazu einfiel, liegt zum einen daran, daß bereits zu Walsers 70. Geburtstag im März vergangenen Jahres alles abschließend gesagt worden ist. Zum andern verkörpern Preis und Preisträger in seltener Tateinheit eine Vorstellung von Literatur, die man seit 1989 verschollen glaubte und deren buchhändlerisches Synonym – die Restauflage – eine euphemistische Umschreibung für die kaufmännische Schwierigkeit ist, die Waren an den Mann zu bringen. Der Preis des Deutschen Buchhandels ist nämlich keine ausdrückliche Auszeichnung rein ästhetischer Qualität des Werkes, vielmehr würdigt er das soziale Engagement des Schriftstellers und seine Neigung, als interessierter Bürger in die Debatten der Zeit einzugreifen. Das verlagert den Schwerpunkt von literarischen auf politische Kriterien und läßt den Wert des Werkes sekundär erscheinen.

Doch auch der Preisträger selbst steht nicht mehr für eine gehaltvolle Literatur von heute. Der große Walser setzte seine letzten Glanzlichter in "Ein fliehendes Pferd" und "Jenseits der Liebe" , seit 20 Jahren bringt er allenfalls handwerkliches Mittelmaß zustande wie in "Verteidigung der Kindheit" (1991), mit etlichen Banaleinlagen ("Das Sofa", 1992, und dem "Fink"-Roman, 1996). Martin Walser, das bedeutet für die neuere deutsche Literatur die Neuauflage der 70er Jahre. Literatur als "gemeinschaftsstiftendes Objekt", "Wiedergänger der Utopie" und "Zeichen gesellschaftlichen Engagements"– das setzt seit knapp zehn Jahren in der Rumpelkammer literaturhistorischer Versuche Staub an.

Der Umbruch von 1989/90 gab dem utopisch-sozialen Literaturverständnis den Laufpaß; seitdem ist auch der Glaube an befriedete soziale Zustände und vernunftgeleitete Dialogbereitschaft einer härteren Sicht auf die Dinge gewichen. Selbstverwirklichung und eingreifende Veränderung – beides zentrale Topoi für das utopische Literatur- undWeltverständnis – sind suspendiert, kommunikatives Handeln nicht ohne weiteres aufrechtzuerhalten, auch nicht die einschlägig gehätschelte "Individualität".

Die einschneidendste Folge für die Lieratur ist gleichzeitig die greifbarste: Keiner der wirklich Großen in Ost und West, die das Projekt einer utopisch-sozialen Literatur bis 1989 getragen hatten, konnte danach noch ein wesentliches Werk vorlegen. Der neuere Martin Walser pflegt einen antiquierten Realismus und ist von den formalsprachlichen Neuerungen im "Einhorn" oder in den "Ehen in Philippsburg" meilenweit entfernt; der Günter Grass der "Unkenrufe" (1992) und "Ein weites Feld" (1996) nur noch ein Schatten des Schriftstellers, der vor 20 Jahren "Der Butt" und "Das Treffen in Telgte" vorlegte; Christa Wolf konnte weder mit ihrer Publizistik ("Auf dem Weg nach Tabou", 1994) noch mit dem "Medea"-Roman (1996) überzeugen, und der Niveauverfall bei Hermann Kant und Erich Loest schockierte jeden, der sich an den "Aufenthalt" und "Es geht seinen Gang" erinnert.

Findet demnach eine Wachablösung statt? Die großangelegten Versuche, einen Gesellschaftsroman als Bild von Utopie und Selbstverwirklichung herbeizuschreiben, offenbaren jedenfalls ein klägliches Scheitern der Kandidaten. Die Wirklichkeit ist zu komplex und parzelliert, die Skala sozialer Redeweisen zu breit und das Denken zu vielfältig, als daß man ihnen mit Konsens, Vernunft, Harmonie so einfach beikommen könnte. Es ist der Begriffsapparat der 70er Jahre, der vor der Wirklichkeit kapituliert. Die Niederlage des Utopieprojekts war in Ost und West gleichermaßen eindeutig. Als Antwort darauf zeichnen sich außer den mißlungenen "Großromane" mindestens drei Richtungen ab, die zumeist lange vor 1989 entstanden sind und jetzt unwillkürlich dafür sorgen, daß dieses Jahr in der deutschen Literatur keine neue "Stunde Null" war.

Da ist zum einen die Strömung des Sprachspiels, das in vielen Varianten – am Berliner Prenzlauer Berg, in Dresden und Köln – seit Anfang der 80er Jahre aus sprachtheoretischen Reflexionen die Konsequenzen für die eigene Literaturauffassung ableitet. Werbung, Radio, Fernsehen, Zeitung, Werkhalle und Supermarkt: die "deutschen Sprachen" dieser Orte werden fulminant gemischt und ergeben in ihrer Polyphonie einen vielschichtigen Sinn, der eine Unmenge historischer Konflikte der deutschen Gegenwart versinnbildlicht; mit dem Star dieser Strömung, dem Berliner Lyriker Sascha Anderson sowie mit Rainer Schedlinski, Bert Papenfuß, Dieter M. Gräf, Stefan Döring kommen Autoren zum Zuge, die Reimpuristen wie Wolf Biermann und Erich Fried anachronistisch erscheinen lassen.

Mit dieser Strömung eng verbunden, eindeutig aber auf Prosa zentriert, bleibt die Postmoderne. Beiden ist das Interesse am formalen Sprachexperiment ebenso gemeinsam wie die Technik, mit verdeckten Zitaten ironische Brechungen der formal glatten Erzähloberfläche zu verursachen. Dem polyphonen Sprachgewirr bei der zweiten Strömung entspricht hier ein gekonntes Ineinanderschieben der Erzählebenen, Zeitpersperspektiven und Erwartungshorizonte, ein (selbstironisches) Jonglieren mit Lesererfahrungen, denen wie aus heiterem Himmel eine scheinbar naive Erzählperspektive wohlkalkulierter Figurenrede übergestülpt wird. Zum Erfolg dieser Richtung trägt auch ein formales Verfahren bei, das vordergründig die großen gesellschaftlichen Diskurse der Moderne (die meisten Handlungen spielen an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert) unterläuft: Scheinbar einfältige Figuren werden in bewegte Zusammenhänge der Frühmoderne gestellt. Die komplexe Wahrheit dieser Zusammenhänge übersteigt bei weitem den begrenzten Erfahrungshorizont der Figur. So kommt der Leser zum Zuge: Aus verwirrenden Teilwahrheiten, beschnittenen Zitate und Einsichten muß er seine Buch-Wahrheit zusammenpuzzeln – meist ein Spiel ohne Ende. Die Wurzeln auch dieser Richtung reichen bis in die 80er Jahre zurück; mit Patrick Süßkinds "Das Parfüm" und Sten Nadolnys "Die Entdeckung der Langsamkeit" feierte sie die spektakulärsten Erfolge.

Nicht zuletzt ist noch die spezifische Antwort der utopisch-sozialen Literatur selbst auf die gewandelten sozialen Umstände ihrer Produktion zu erwähnen, zumindest in der Ost-Variante. Dabei geht es um die paraliterarische Form, wie sie sich meist in publizistischer Gestalt präsentiert: Memoiren- und Erinnerungsliteratur als Abrechnung mit der jüngsten Vergangenheit.

Diese nimmt in der Reflexion über Modelle deutsch-deutschen Zusammenseins eine besondere Stellung ein: Sie ist die einzige Form des literarisch-publizistischen Nachdenkens über Umbruch und Vereinigung. Die westdeutsche Literatur nahm sich dieses Themas erst gar nicht an – offenbar in der Überzeugung von der Alternativlosigkeit des altbundesrepublikanischen Gesellschaftsmodells. Wie weit damals die Vorstellung verbreitet war, daß die DDR nur durch eine völlige Anpassung daran die Zivilsations- und Kulturnorm erfüllt, macht Jürgen Habermas’ Wort von der "nachholenden Revolution" sinnfällig.

Ein formaler Zug dieser Publizistik bleibt ihr bekenntnishafter (auch gleichzeitig abrechnender) Charakter. Das dominante Motiv hingegen ist das der eigenen "Mitschuld" am Zusammenbruch der DDR. Beides – Schuldbekenntnis und Vergangenheitsverwerfung – läßt unwillkürlich an die Flut der Memoirenliteratur denken, wie sie kurz nach 1945 aus den Federn ehemaliger Größen des "Dritten Reiches" geflossen war. Mit einem entscheidenden Unterschied: Die DDR hinterläßt ein geistiges Erbe, das keineswegs auf den Müllhaufen der Geschichte gehört.

Das wissen auch die Autoren – und das macht die Bücher nicht besser. Von der Absicht her Resümee des Jahrhunderts, von der Anlage her höchst subjektives Bekenntnis, von der praktischen Ausführung Scharnier zwischen Anklage und Verteidigung: Es ist offenbar, daß diese Literatur hoffnungslos überfordert war. Stellvertretend dafür steht Christa Wolf mit ihrem "Weg nach Tabou", aber auch der "staatsfernere" Günter de Bruyn entgeht nicht der Vermengung von ästhetischer Qualität und moralisch zu vermessender "Schuld" an einer mögliche Vereinnahmung seines Werkes durch die DDR. In seiner "Zwischenbilanz" (1992) löst er den Konflikt auf eine Weise, die später für eine stattliche Anzahl Epigonen stilbildend wirken sollte: Er verlegt den Epochenkonflikt in die eigene Biographie und zeichnet Stationen seiner wachsenden Entfremdung von der DDR nach: Aufbaujahre–Bitterfelder Weg–11. Plenum 1965 – Prager Frühling – Biermann - Ausbürgerung – Solidarnosc – Versteinerung der späten 80er Jahre. Zum Schluß steht das Subjekt dieses Prozesses seinem Staat völlig entfremdet gegenüber. Nicht anders, wenn auch mit einem gehörigen Schuß Zynismus gewürzt, verläuft die "Loslösung vom roten Gott" bei Heiner Müller in "Krieg ohne Schlacht" (1994).

In dieser Memoirenliteratur schieben sich zwei Mystifikationen ineinander: Der Legende über die eigene Emanzipation vom Totalitarismus in DDR-Gestalt, die sich sozusagen in den eigenen vier Wänden vollzieht, folgt – auch als Reaktion auf die schnelle Eingliederung der DDR in die BRD, die keine Zeit für Selbstbesinnung und Emanzipation ließ – der unerfüllte Traum vom "dritten Weg". Während ersteres ein verschleierter Reflex der Ausgliederung des Intellektuellen aus den Produktionsprozessen einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft ist und einen allgemeinen Charakterzug der Moderne darstellt, geht es beim Traum vom dritten Weg um eine modifizierte Neuauflage des sozialutopischen Entwurfs und damit um ein genuin deutsches Problem.

Die Welle der publizistischen Abrechnungen verebbte um 1994/95. Als Geschichte der DDR-Intellektuellen langen die Bücher nicht, zu vieles entspringt dem Wunschdenken, zu wenig einer klaren Analyse. Mitte der 90er Jahre kommen erste fundierte Studien zum Alltag in der DDR auf den Buchmarkt, und sie fegen die publizistischen Wahrheiten vom Tisch. Den Rest besorgt der politische Alltag: Zu diesem Zeitpunkt ist die Alternativlosigkeit der Bundesrepublik bereits eine Tatsache und Alternativmodelle nur noch Makulatur.


 
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