© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/98 17. Juli 1998

 
 
Deserteure: Die Gerichtsbarkeit der Wehrmacht
Für zehn Minuten feige
Lothar Groppe S.J..

Jetzt sind also die Unrechtsurteile aus der Nazizeit endgültig aufgehoben worden. Jeder rechtlich Den-
kende wird diesen überfälligen Schritt begrüßen. Im Zuge der Aufhebung von Unrechtsurteilen durch Beschluß des Bundestages wurden auch die Deserteure rehabilitiert. Das hatte Burkhard Hirsch (FDP) im linkslastigen Sonntagsblatt bereits am 30. August 1996 zur Diskussion gestellt. Hirsch, immerhin Volljurist, behauptete in seinem Beitrag: "Je länger der Krieg dauerte, um so mehr waren Militärgerichte Instrumente des Terrors. Die Richter waren nicht unabhängig, die Urteile richteten sich nicht nach dem Einzelfall, und sie standen häufig schon vorher fest. Man bediente sich des bloßen Rituals der Justiz. Zehntausende wurden so zum Tode verurteilt und hingerichtet, mehr als in allen anderen Staaten zusammen."

An diesem Statement ist nahezu alles falsch. Hirsch ließ sich hierzu wohl vom Buch "Die Wehrmachtsjustiz im Dienste des Nationalsozialismus" von Manfred Messerschmidt und Fritz Müller verleiten. Das Autorenduo kommt auf stolze 40.000 bis 50.000 Todesurteile. Freilich nimmt kein seriöser Historiker diese Zahlen ernst. Im Gegensatz zu den "hochgerechneten" Phantasiezahlen stützt sich der langjährige Professor für Militärgeschichte an der Bundeswehruniversität München, Franz Seidler ("Die Militärgerichtsbarkeit der deutschen Wehrmacht 1939–1945", München 1991), auf solide Quellen. Es sind dies die "Wehrmachtskriminalstatistik" mit konkreten Angaben über Art, Zahl und Strafmaß der vor Kriegsgerichten verhandelten Verbrechen und Vergehen. Sodann standen ihm die Befragungsprotokolle des Schweizer Sicherheitsdienstes und der schwedischen Polizeibehörden über jene Deserteure zur Verfügung, denen die Flucht in diese Länder gelungen war. Schließlich konnte er auch das Bundesarchiv und die in Prag befindlichen Akten des Reichskriegsgerichts zu Rate ziehen. Danach wurden in der Wehrmacht wegen Fahnenflucht 13.550 Soldaten verurteilt, davon etwa 6.000 zum Tode. Ungefähr die Hälfte von ihnen war bereits aus dem Zivilleben vorbestraft.

Die straffe Zucht in der Truppe, nicht zuletzt die Angst, an die Front zu kommen, veranlaßte viele von ihnen zu desertieren. Die Schweizer Behörden stellten nüchtern fest, daß es sich bei den Deserteuren um Menschen handele, bei denen "die anständigen Gesinnungsflüchtlinge in der Minderzahl waren". Es ist also völlig verfehlt, sie nachträglich zu Widerstandskämpfern hochzustilisieren. Sie huldigten vielmehr weitgehend dem Grundsatz: Lieber zehn Minuten feige, als ein ganzes Leben lang im Massengrab.

Wenn in den ZEIT-Punkten (3/95) so schön antifaschistisch "vom Mut, davonzulaufen" die Rede war, liegt günstigstenfalls profunde Ignoranz vor.

Auch Frau Däubler-Gmelin, die im Schattenkabinett des Kanzlerkandidaten Schröder vorgesehen ist, setzt sich für die Pauschalrehabilitierung aller von Kriegsgerichten wegen Kriegsdienstverweigerung, Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung Verurteilten ein, die sie samt und sonders in einem Interview mit der Bonner Rundschau vom 7. August 1996 als Unrecht bezeichnete. Doch obwohl ebenso Volljuristin wie Burkhard Hirsch, offenbart sie eine verblüffende Unkenntnis der allgemein üblichen Militärgerichtsbarkeit. Fahnenflucht gilt in allen Ländern als schweres Verbrechen und wird entsprechend hart bestraft, nicht selten mit dem Tode.

Im Zusammenhang mit der Hetze gegen den früheren baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger wurde unter anderem das Gutachten des unabhängigen deutschen Sachverständigen Dr. Otto Rappenecker eingeholt. Er erklärte: "…In Kriegszeiten kennt jedes Land die Todesstrafe, ganz besonders bei Fahnenflucht. Wäre es anders, dann wäre jeder Soldat ein Tölpel, wenn er nicht in einer Gefahrenlage davonlaufen würde. Die Androhung der Todesstrafe im Kriege hat mit Nazismus nichts zu tun. Auch die Demokratie kennt entsprechende Strafbestimmungen. Die Schweiz, die sicherlich nicht im Verdacht steht, ein Nazistaat zu sein, droht in Artikel 61 des
Militär-strafgesetzbuches selbst bei Ungehorsam vor dem Feind die Todesstrafe an. Frankreich und andere Länder kennen die Todesstrafe sogar in Friedenszeiten."

Nach russischen Quellen wurden wegen unerlaubter Entfernung von der Truppe, Fahnenflucht und Feigheit vor dem Feind über 100.000 Soldaten – meist ohne ordentliches Verfahren vor einem Kriegsgericht – liquidiert.
Besonders der bekannte Sowjetmarschall Shukow bevorzugte diese Methode.

Wenn es in einer Stellungnahme zur Befürwortung einer pauschalen Rehabilitierung von Deserteuren hieß: "Die damalige Militärgerichtsbarkeit war eine dem NS-Regime besonders willfährige Institution", so zeugt dies ebenfalls von Unwissenheit. Allein die Tatsache, daß die Chefs der Rechtsabteilung von Heer und Luftwaffe, Karl Sack und Rudolf Schleicher, von den Nazis hingerichtet bzw. ermordet wurden, beweist das Gegenteil. Gewiß gab es auch unter den Wehrmachtrichtern "Bluthunde". Aber sie waren eindeutig in der Minderzahl. Ebenso unbestreitbar dürfte sein, daß es auch in der Wehrmachtjustiz – bei insgesamt 650.000 Verfahren – ebenso wie in Zivilprozessen Unrechtsurteile gegeben haben dürfte. Deren Opfer sollten selbstverständlich rehabilitiert, und soweit noch am Leben, angemessen entschädigt werden.

Es wäre ein schweres Unrecht, die etwa 1.630 Wehrmachtrichter der Kriegszeit als willfährige Büttel der Nazis zu verunglimpfen. In der überwiegenden Mehrheit handelte es sich um Juristen, die, wie etwa Dr. Sack, den Zivildienst deshalb verließen, weil dieser mehr und mehr dem Druck von Parteidienststellen ausgesetzt war, der eine unabhängige Rechtsprechung gefährdete.

Im Gegensatz zu den berüchtigten Sondergerichten oder gar dem Volksgerichtshof waren die Wehrmachtrichter Hüter des Rechts und haben durch ihren mutigen Einsatz viele Soldaten vor einem bösen Schicksal bewahrt. So gelang es hohen Wehrmachtrichtern auf Weisung von Dr. Sack, meinen Vater, dessen Akten bereits vor dem Volksgerichtshof lagen, vor das Reichskriegsgericht zu laden. Der untersuchungsführende Generalrichter Dr. Hoffmann stellte jedoch das Verfahren wegen Defaitismus und Wehrkraftzersetzung mangels Tatbestandsmäßigkeit ein, obwohl ihm, wie auch den beiden anderen Richtern, bekannt war, daß Heinrich Himmler bereits 1940 ein Verfahren wegen Heimtücke gegen meinen Vater gefordert hatte und mein Vater von Hitler degradiert und aus der Wehrmacht ausgestoßen worden war. Hinzu kommt, daß er keinem der Richter persönlich bekannt war.

Sobald Himmler von der Einstellung des Verfahrens erfuhr, befahl er telegraphisch die Verhaftung meines Vaters. Dennoch schickte Generalrichter Dr. Hoffmann ein Telegramm an die Gestapo: "Verfahren gegen Generalleutnant Groppe eingestellt, da keinerlei Belastungsmomente gegeben sind. Drahtantwort erbeten, warum General Groppe in Haft."

Sicher haben nicht alle Wehrmachtrichter einen solchen Einsatz gewagt. Aber die Bereitschaft zum Martyrium kann man nicht von jedermann erwarten. Pauschalurteile gegen die Wehrmachtjustiz sind völlig verfehlt. Eine allgemeine Rehabilitierung von Deserteuren würde nicht nur diejenigen desavouieren, die bis zum letzten Augenblick ihre soldatische Pflicht erfüllten, sondern auch gefährliche Präzedenzfälle für Bundeswehreinsätze in Krisensituationen schaffen.


 
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