© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/98 17. Juli 1998

 
 
Türken in Deutschland: Immer mehr machen sich selbstständig
Döner Kebab für dreifünfzig
Gerhard Quast

Berlin ist nicht nur die größte türkische Ansiedlung außerhalb des türkischen Staatsgebietes, es hat ohne Zweifel auch die höchste Dichte türkischer Imbißbuden. Längst hat in der Hauptstadt die "Brutzelpfanne", die "Gute Küchenfee" und die "Schlemmerkiste" Konkurrenz von den hier lebenden Ausländern bekommen: "Izmir Imbiß", "Bei Mustafa", "Efendi Döner" oder "Türk Imbiß" beherrschen das Straßenbild. In fast jedem Bezirk stößt der Berlin-Besucher auf das immer gleiche "Ambiente". In manchen Gegenden Kreuzbergs oder Neuköllns ist die Konzentration kaum noch zu überbieten: Wo man hinschaut, die obligatorischen Fleischspieße. Döner für dreifünfzig oder – wenn die Konkurrenz es zuläßt – auch mal für fünf Mark.

Doch der Eindruck trügt. Die Türken sind längst nicht mehr nur Inhaber von Imbißstuben. Neben dem "traditionellen" Handel mit Lebensmitteln sowie Reisebüros für die eigenen Landsleute (und Türkei-Urlauber) gibt es in fast allen Branchen Unternehmensgründungen: Die in Deutschland lebenden Türken sind zwischenzeitlich nicht nur im gesamten Bereich des Im- und Exports tätig, sondern genauso im Computerbereich oder als Bestattungsunternehmer. Allein im letzten Jahr soll nach Berechnungen des Zentrums für Türkeistudien (ZfT) die Zahl der Selbständigen um 5.000 auf 47.000 zugenommen haben, so die "Untersuchung zur Wirtschaftskraft der türkischen Erwerbsbevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland".

Gab es 1990 bereits 33.000 türkische Unternehmer, waren es Ende 1997 42,4 Prozent mehr. Dieser Anstieg geht natürlich einher mit der demographischen Entwicklung. Denn auch der türkische Bevölkerungsanteil stieg durch Zuzug und Geburtenüberschuß kontinuierlich an. 1985 lebten in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 1,40 Millionen Türken. Bis 1996 erhöhte sich diese Zahl um 46,3 Prozent auf knapp 2,05 Millionen. Im gleichen Zeitraum wuchs die Zahl der von Türken betriebenen Unternehmen von 22.000 auf 42.000.

Entsprechend der Zunahme der Betriebe wuchs auch der jährliche Umsatz: Nach ZfT-Berechnungen haben die türkischen Selbständigen 1997 insgesamt 41,4 Milliarden Mark umgesetzt, was einer Zunahme von 15 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entspricht. Auch die Zahl der Arbeitsplätze habe sich um 8,7 Prozent auf 202.100 erhöht. Im Durchschnitt beschäftige jeder türkische Unternehmer somit 4,3 Personen – zum großen Teil Familienangehörige.

"Erfreuliches", so die Autoren, gäbe es auch über die Ausbildungsbereitschaft türkischer Betriebe zu berichten. Eine empirische Untersuchung des ZfT bei 1.613 "türkischstämmigen Betrieben" habe ergeben, daß 81,2 Prozent dieser Betriebe "theoretisch" die formalen Voraussetzungen zur Lehrlingsausbildung erfüllen, es sich also zum Beispiel nicht um einen Kiosk handelt. Da jedoch kaum zehn Prozent dieser Betriebe ausbilden, könnten "bei optimaler Förderung" 20.000 Lehrstellen eingerichtet werden, meint das Institut.

Daß 83,1 Prozent aller Betriebe bisher noch nie Auszubildende beschäftigt haben und 75,4 Prozent Bereitschaft für Ausbildungsplätze zwar signalisieren, aber nicht realisieren, dürfte allerdings weniger an der Finanzierung liegen, als an den fehlenden betrieblichen und fachlichen Voraussetzungen. Dies wird sich auch in den kommenden Jahren kaum verändern, denn die Integration der ausländischen Jugendlichen in das deutsche Schul- und Ausbildungssystem ist weitgehend zum Stillstand gekommen oder zeigt – hauptsächlich in der Berufsausbildung – erste Rückschritte: Obwohl die Zahl der ausländischen Schulabgänger zunimmt, ging die Zahl ausländischer Auszubildender in den Betrieben drastisch zurück. Auch die Berufsschulen verläßt jeder dritte Ausländer ohne Abschluß, so das Ergebnis einer kürzlich veröffentlichten Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.

Wenn Faruk Sen, der Direktor des ZfT, in dem Vorwort zur Studie außerdem schreibt, daß die politische Bedeutung der Türken "durch die verstärkt vollzogene Einbürgerung noch mehr zunehmen" werde, wird deutlich, daß im Sprachgebrauch und wohl auch in den Berechnungen des ZfT ("türkischstämmige Betriebe") nicht unterschieden wird, ob ein Unternehmer türkischer Staatsangehöriger ist oder bereits die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hat, was nicht ganz unbedeutend ist, denn seit 1990 haben 123.317 Türken einen deutschen Paß erhalten.

Und noch ein Umstand kommt in der Studie zu kurz, die Tatsache, daß unverhältnismäßig viele Unternehmer schon nach wenigen Monaten aufgeben: Jeder dritte Betrieb überlebt nicht einmal die ersten zwölf Monate. Wie hoch insgesamt die Rate der Konkurse ist, darüber gibt es ebenfalls keine Daten.


 
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