© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/98 07. August 1998

 
Kolumne
Hummelflug
von Klaus Motschmann

Im Konstruktionsbüro eines bekannten Flugzeugher-stellers der dreißiger Jahre hing folgende Sentenz an der Wand: "Die kurzen Stummelflügel der Hummel im Verhältnis zu ihrem Körpergewicht machen es der Hummel theoretisch unmöglich, zu fliegen. Die Hummel weiß das aber nicht und fliegt trotzdem."

Es wäre zu begrüßen, wenn diese oder eine ähnliche Sentenz in möglichst vielen Konstruktionsbüros unserer Meinungs- und Bewußtseinsindustrie angebracht werden könnte: in den Redaktionen von Presse, Funk und Fernsehen, in den Chefzimmern der Grundsatz- und Srategiekommissionen der großen gesellschaftlichen Verbände, in den Programm- und Wahlkampfbüros der politischen Parteien und wo sonst die Zukunft unseres Volkes auf Grund neuer Prognosen und Entwürfe, Konzeptionen und Programme "gestaltet" – und das heißt in den meisten Fällen: konstruiert – wird.

Auf diese Weise könnten wir ohne nennenswerten Aufwand da und dort doch zu einem realistischen Welt- und damit auch zu einem realistischen Politikverständnis zurückkehren: daß wir alle Entwicklungen und Erscheinungen in Natur und Geschichte, in Wissenschaft und Technik, in Gesellschaft und Politik nicht allein an den jeweils vorherrschenden ideologischen, weltanschaulichen, wissenschaftlichen und politischen "Konzeptionen" messen dürfen, wenn wir nicht "vermessen" sein wollen. Damit ist selbstverständlich überhaupt nichts gegen die Notwendigkeit von politischen Konzeptionen gesagt; allerdings sehr viel gegen den Irrglauben, daß sich alle Probleme dieser Welt durch immer neue Konzeptionen und Programme, Abkommen und Manifeste lösen lassen; daß derjenige verantwortlich handelt, der über ein umfassendes, wissenschaftlich fundiertes Konzept verfügt und daß derjenige "populistisch"-unverantwortlich handelt, der über ein derartiges Konzept (angeblich) nicht verfügt. Das Gegenteil ist in der Regel der Fall! Die Fixierung auf Konzepte und Programme führt zu einer um sich greifenden Verhaltensunsicherheit bei Entscheidungen, die nicht in dem abgesteckten Handlungsrahmen liegen. Wie verhaltensunsicher wäre die Hummel, wenn sie wüßte, daß sie theoretisch gar nicht fliegen kann!

Die in Wahlkampfzeiten übliche Frage nach "Konzepten" trifft das Wesen verantwortlicher politischer Entscheidungen nicht, zumal sie die Frage verdrängt, warum mit neuen Konzepten das erreicht werden soll, was mit den alten nicht erreicht worden ist: ein radikaler Kurswechsel. Dazu bedarf es zunächst keiner neuen Konzepte, sondern einer sehr einfachen Entscheidung, wie sie Thomas Mann zur Erklärung seines Verhaltens veranschaulicht hat: "Ich lehne mich instinktiv nach links, wenn das Boot rechts zu kentern droht und umgekehrt." – Und umgekehrt! Darüber sollte endlich nachgedacht – und vor allem gehandelt werden.


 
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