© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/98 07. August 1998

 
Lebensschutz: Kritik am Frankfurter Urteil zur Sterbehilfe
Würde, Werte und Wille
von Alexander Schmidt

Wenige Tage nach der Veröffentlichung des Urteils zur Sterbehilfe im Fall einer im Koma liegenden 85jährigen Patentientin (JF 31-32/98) ist die Entscheidung des Zivilsenates des Frankfurter Oberlandesgerichts auf harsche Kritik von Lebensrechtsgruppen, katholischen Verbänden und Politikern aller Parteien gestoßen.

Die stellvertretende Vorsitzende des Sozialverbandes Reichsbund, Ina Stein, kritisierte in der Neuen Osnabrücker Zeitung, daß für die Sterbehilfe in Zukunft der vermutete Willen des Patienten ausreiche. Auch der Vorschlag von sogenannten Patienten-Testamenten, in denen jeder seinen Willen festhalten kann, ist umstritten. Die Deutsche Hospiz-Stiftung warnt, daß die besagten Willensbekundungen "derzeit inflationär in Umlauf gebracht werden".

In weiten Kreisen stößt das Urteil auf grundsätzliche Kritik. Sowohl Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig (FDP) als auch die Bundestagsabgeordnete der Grünen, Monika Knoche, lehnten das Urteil ab. "Für mich kann es nie in Frage kommen, daß der Staat in irgendeiner Form die Hand zur Tötung von Menschen reicht", erklärte Schmidt-Jortzig, der sich als "eingefleischter Fundamentalist" in diesen Fragen bekennt. Der christdemokratische Bundestagsabgeordnete und Gesundheitsexperte seiner Fraktion, Wolfgang Lohmann, sieht dagegen keine Probleme. Wenn ein Todkranker um Sterbehilfe bitte, solle sie doch gewährt werden.

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann, erklärte dazu im Südwestdeutschen Rundfunk, daß die Würde des Meschen nicht mit dem Ende seiner Fähigkeit zum bewußten Leben ende. Das Urteil hätte eine Tür aufgerissen, weil Dritte somit über das Leben und den Tod eines Patienten entscheiden könnten. "Der Beschluß des Gerichtes höhlt das Recht auf Leben weiter aus", erklärt Roland Rösler, Landtagsabgeordneter der CDU in Nordrhein-Westfalen. Das Kriterium des "bewußten und unbewußten Lebens", welches in der Urteilsbegründung Anwendung fand, zweifelt er auch an. Eine solche Entscheidung käme in gefährliche Nähe eines Urteils über den Wert oder Unwert des menschlichen Lebens.

Tatsächlich stellt sich auch zwei Wochen nach dem Frankfurter Urteilsspruch die Frage, wo Gerichte eine Grenze zwischen Mord und Sterbehilfe ziehen. Es handelt sich in dem Fall der 85jährigen Patientin nicht nur um passive Sterbehilfe, die das Ausschalten von lebenserhaltenden Maschinen beinhaltet, sondern um aktive Sterbehilfe. Eine Entfernung der Sonde aus dem Körper der nach einem Hirninfarkt im Koma liegenden Frau wäre nämlich mit einem Tod durch Verhungern gleichzusetzen. Wo aber gibt es für Menschen die Berechtigung, über das Leben eines anderen zu entscheiden?

Auf diese Frage geht die Entscheidung der Richter nicht ein. In dieser Konsequenz sehen Lebensrechtler in ganz Deutschland eine Aufweichung des Tötungsverbotes, wenn Richter, die angesichts der Überlastung der Gerichte teilweise unter Zeitdruck stehen, über das Weiterleben anderer Menschen entscheiden könnten. Zwar heißt es im Urteil, daß auch alle in diesem Bereich getroffenen Entscheidungen Einzelfallentscheidungen sein müßten. Wo allerdings schon ein erstes Urteil gefällt ist, kann es leicht passieren, daß sich Richter daran orientieren.

In einem Gespräch mit der JUNGE FREIHEIT äußerte auch die Bundesvorsitzende der Christdemokraten für das Leben (CDL), Johanna Gräfin von Westphalen, Bedenken gegenüber der Entscheidung des Gerichts. Das Urteil sei ein "Einfall zur Legalisierung der Sterbehilfe", das in der Konsequenz die aktive Sterbehilfe zur Folge hätte. Deutschland, so prophezeit sie, laufe nun Gefahr, in freizügigere niederländische Verhältnisse zu kommen, wo die Debatte um Sterbehilfe schon früher losbrach. Dem gelte es allerdings entgegenzutreten, denn "jetzt wird es ernst". Hatte der Lebensschutz in Deutschland nämlich eine gute Position gehabt, stellt sich jetzt die Frage, wie ein Gericht den mutmaßlichen Willen eines Patienten bestimmen will.

Der großen Mehrheit, die nach Umfrageergebnissen das Urteil befürwortet, wirft Johanna Gräfin von Westphalen mangelnde Weitsicht vor. Viele hätten die Konsequenzen, die das Urteil nach sich zieht, offenbar weder durchschaut noch durchdacht. Es gehe nicht um den "Mitleidseffekt", eine 85jährige doch in Ruhe sterben zu lassen, sondern um Euthanasie. Das seit langem verschobene Werteverständnis spiele mit in die Entscheidung ein. Der höchstpropagierte Wert sei die Selbstbestimmung, fixiert auf ein diesseitiges Leben, die auch vor dem eigenen Tod nicht haltmache. "Ein Mensch, der in Krankheit und Elend lebt, verliert hier schnell die Berechtigung zu leben, weil andere sein Leben als nicht lebenswürdig ansehen", sagte die CDL-Vorsitzende.


 
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