© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/98 07. August 1998

 
Politische Bildung: Eine Podiumsdiskussion über Rechtsextremismus
Experten unter sich
von Heinrich W. Artern

Podiumsgespräche zum Umgang mit Neonazismus und Rechtsextremismus, bei denen sich "Extremismus-Experten" sowie Sozio- und Politologen jeglicher Couleur tummeln, haben seit dem DVU-Wahlerfolg in Sachsen-Anhalt wieder Hochkonjunktur. So geschehen am 30. Juli in der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung, wo die Friedrich-Ebert-Stiftung, der DGB Sachsen und das Herbert-Wehner-Bildungswerk Sachsen als Veranstalter fungierten. Neben den Innenministern von Sachsen und Niedersachsen, Klaus Hardrath (CDU) und Gerhard Glogowski (SPD) saßen der durch seine neueste Studie bekannt gewordene Extremismus-Forscher Bernd Wagner, der Vorsitzende der historischen Kommission der SPD, Bernd Faulenbach, sowie der sächsische DGB-Vorsitzende Hanjo Lucassen im Podium. Die Moderation übernahm der Direktor der Landeszentrale Wolf-Dieter Legall.

Bernd Faulenbach ging der Frage nach, ob Massenarbeitslosigkeit für das Entstehen des Rechtsextremismus verantwortlich sei. Dabei verglich er die Entwicklung der Weimarer Republik mit derjenigen der Bonner und der Berliner Republik und stellte fest, daß Arbeitslosigkeit Anfang der dreißiger Jahre als Katalysator für die Delegitimierung der Republik diente, vor allem weil radikale Parteien infolge der krisenhaften Situation als kollektive Sinnstifter auftreten konnten. Es sei erschreckend, daß heute immer weniger Menschen der Staatsform Demokratie eine Problemlösungskompetenz zutrauten.

"Jugendarbeit mit rechten Jugendlichen gescheitert"

Bernd Wagner, der schon im DDR-Innenministerium für die rechtsextremistische Szene zuständig war, nach der Wende bis Ende 1991 als Leiter des Kriminalpolizeilichen Staatsschutzes der fünf neuen Länder fungierte und heute Vorsitzender des Berlin-Brandenburger Bildungswerkes ist, will seit 1996 eine zunehmende soziokulturelle Verankerung der Rechtsradikalen in der Jugendszene beobachtet haben. Dabei hätte es eine Transformation rechter Horizonte aus der DDR-Zeit bis heute gegeben. Seit Anfang der 80er Jahre sei in der DDR eine rechte Szene entstanden, die bis 1989 ein Zellennetzwerk "neonationalsozialistischer" Aktivisten aufgebaut habe. Dabei hätte es keine öffentliche Behandlung dieses Themas im "antifaschistischen Arbeiter- und Bauern-Staat"gegeben; wenn, dann sei nur mit repressiven Mitteln reagiert worden. Interessant sei vor allem, daß die damaligen Schwerpunkte der Szene auch die heutigen "Hochburgen" seien, beispielsweise Ostthüringen, Ostsachsen, der Raum um Leipzig, das Nordharzgebiet und der Ring um Berlin. Aufgrund dieser gewachsenen Struktur hätten es die klassischen rechten Parteien Westdeutschlands in den ersten Jahren nach 1989 nicht leicht gehabt, hier Fuß zu fassen. Einen zusätzlichen Schub für die gesamte rechte Szene habe es zwischen 1990 und 1994 aufgrund der Asyldebatte gegeben.

Festzustellen sei, so Wagner, daß die Jugendarbeit mit rechten Jugendlichen gescheitert wäre. Von Seiten der jungen Aktivisten sei die effektive Zellenstruktur wieder aktiviert und mit der Strategie der kulturellen Hegemonie versehen worden, die auf den italienischen Kommunisten Antonio Gramsci zurückginge. Als Vorbilder hätten dabei vor allem die "Nouvelle Droite" in Frankreich mit deren Vordenker Alain de Benoist sowie das Thule-Seminar in Deutschland mit Pierre Krebs gedient. Gleichzeitig sei es zu einer Reorganisation der Reichsidee gekommen, verbunden mit einer neuen Religiosität, die sich in erster Linie als heidnische Identität äußere. Daneben sei es beispielsweise der NPD in Sachsen gelungen, mit einer neuen Taktik Themen zu besetzen, die vielen Leuten auf den Nägeln brennen und die man allgemein als "Globalisierungsthemen" bezeichnen könne.

DGB-Chef Hanjo Lucassen stellte fest, daß das heutige Meldeverfahren der Arbeitsämter auch eine Rekrutierung dieser Klientel durch Rechtsextremisten weitgehend unmöglich mache. Aus seiner Sicht sei die Hauptursache für Rechtsextremismus das Gefühl der Perspektivlosigkeit, vor allem bei jungen Arbeitslosen. 30.000 Jugendliche allein in Sachsen würden immer noch einen Ausbildungsplatz suchen, so Lucassen. Außerdem gäbe es in der Gesellschaft eine unzureichende Vermittlung von solchen Werten wie Gemeinschaft und Solidarität. Lucassen forderte vehement, daß die Demokratie sich wehrhaft zeigen müsse. "Wir müssen den Leuten klarmachen, daß Demokraten keine Weicheier und Schlappschwänze sind!" Deshalb trete er konsequent für ein Verbot der NPD durch das Bundesverfassungsgericht ein.

Der sächsische Innenminister Hardrath wies darauf hin, daß sich im vergangegen Jahr die Zahl der Rechtsextremisten um zehn Prozent auf 2.550 Personen erhöht habe, im gesamten Bundesdurchschnitt aber nur um 6,8 Prozent. Dieser Anstieg sei vor allem auf den Mitgliederzuwachs der NPD zurückzuführen, die von 300 (1996) über 900 (1997) auf derzeit ungefähr 1.200 Mitglieder gewachsen sei. Dabei habe sie vor allem kleinere Gruppen wie den "Nationalen Jugendblock Zittau e.V." oder "Die Nationalen e.V." aufgesaugt, aber auch von der DVU bisher 300 Überlaufer erhalten. Letztere liege momentan in Sachsen bei ungefähr 300, die Republikaner bei 500 Mitgliedern. Von 1996 zu 1997 sei ein starkes Ansteigen der sogenannten Propagandadelikte von 904 auf 1.400 zu verzeichnen gewesen, die rechtsextremistischen Gewalttaten seien aber mit 89 zu 90 annähernd gleichgeblieben.

Hardrath sieht die Ursachen dafür in den wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, die mit Zukunftsängsten einhergingen. Dennoch wies der sächsische Innenminister die These zurück, daß zwischen Arbeitslosigkeit und Rechtsextremismus eine Kausalität bestehe. Vielmehr sei es in den sogenannten Hochburgen dazu gekommen, daß ein Großteil der intelligenten und flexiblen Jugendlichen in die Großstädte weggewandert sei, und nur die immobilen Jugendlichen seien in den Problemgebieten zurückgeblieben. Als weitere Ursache nannte Hardrath, daß in der DDR Kinder von Problemfamilien in Kindertagesstätten und Horte abgegeben wurden, womit er aber im Publikum einen Sturm der Entrüstung erntete, war doch zu DDR-Zeiten fast jedes Kind aufgrund Berufstätigkeit der Mutter im Hort sowie im Kindergarten gewesen.

Als Fazit nannte der Minister, daß der harte rechte Kern mit allen rechtlichen Mitteln wie Verfassungsschutz und Staatsanwaltschaft verfolgt und gleichzeitig die Bevölkerung informiert werden müsse, was beispielsweise die NPD wirklich will. Auch sei Aufklärung darüber notwendig, daß fast alle Kader der in den letzten Jahren verbotenen rechten Gruppen und Vereine mittlerweile flächendeckend in die NPD-Strukturen eingedrungen seien. Vielfach würde aber diese Aufklärung behindert. Beispielsweise seien in mehreren sächsischen Schulen Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz gar nicht erst in die Klassenzimmer gelassen wurden.

Zum Abschluß verwies Hardrath auf die Erfolge der Sonderkommission Rechtsextremismus ("Soko Rex"), von der mittlerweile 90 Prozent der Straftaten aufgeklärt würden. Die Mitarbeiterzahl der Soko Rex sei von 33 auf 63 Personen erhöht worden. Jede Nacht werden von ihnen bis zu 40 Mitarbeiter eingesetzt, um zu den Treffpunkten der jungen Rechtsradikalen zu gehen. Dort warnten sie potentielle Gewaltäter vor den Konsequenzen ihres Tuns. Gemeinsam mit dem kontinuierlichen Verfolgungsdruck sei diese Strategie bisher erfolgreich gewesen.

Der niedersächsische Innenminister Gerhard Glogowski stellte zu Beginn seiner Ausführungen folgende Aussage: "Neonationalsozialismus ist nicht spezifisch ostdeutsch, sondern dieser ist ein deutsches Phänomen!". Er verwies darauf, daß Rechtsradikalismus in der Gesellschaft immer latent vorhanden sei. Mit schnellen Verboten sei da nichts auszurichten, denn der Rechtsextremismus sei zuallererst in den Hirnen der betreffenden Menschen verankert. Bevor ein Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht eingereicht werden soll, müßte dies inhaltlich entsprechend fundiert sein.

Glogowski plädierte für eine konsequente Anwendung repressiver Mittel, der Verfolgungsdruck des Staates müsse noch erhöht werden und man sollte verstärkt gerichtlich tätig werden. Er ließ keinen Zweifel daran, sowohl bei der DVU als auch bei der NPD auf einen gut begründeten Verbotsantrag hinwirken zu wollen. Erstere Partei sei ein Privatverein des Multimillionärs Frey, dem die DVU derzeit schon 7,3 Millionen DM schulde und die keine demokratische Parteistruktur aufweise. Und bei der NPD, deren führende Funktionäre mehrfach mit verfassungsfeindlichen Sprüchen aufgefallen seien, sei eine eindeutige Öffnung zum National-Sozialismus sowie eine enge Zusammenarbeit mit Marxisten-Leninisten erkennbar. Und solche organisierten Formen des Rechtsextremismus seien, so Glogoswki weiter, in Krisensituationen außerordentlich gefährlich. Im übrigen seien fast 30 Prozent der gegenwärtigen NPD-Mitglieder in Sachsen aktiv.

Glogowski will Verbot von NPD- und DVU vorantreiben

Sachsens Innenminister Hardrath reagierte auf diese Anspielung und teilte mit, daß die NPD schon seit langem intensiv vom Landesamt für Verfassungsschutz beobachtet würde. Zu Glogowski gewandt wies er darauf hin, daß dieser auf der letzten Innenministerkonferenz mit seiner Verbotsforderung allein dagestanden hätte. Dokumentierte Sprüche einzelner würden vor Gericht nicht reichen, so Hardrath weiter. Erst müßten weiter umfassende Beweise gesammelt werden, bevor man einen Verbotsantrag stellen könnte.

Glogowski versicherte daraufhin, daß er in der Frage des DVU- sowie des NPD-Verbotes auf keinen Fall lockerlassen wolle. Er werde als nächstes den niedersächsischen Landtag überzeugen, eine entsprechende Bundesratsinitiative zu starten.

Hardraht machte den anwesenden Vertretern von Bildungseinrichtungen den pikanten Vorschlag, zukünftig kostenlos Mitarbeiter des Staatsschutzes und des Landesamtes für Verfassungsschutz als Referenten zu Vorträgen über Rechtsradikalismus zur Verfügung zu stellen. Dies würde ebenso für alle sächsischen Schulen gelten. Ob dann auch die Verdeckten Ermittler von ihren Erfahrungen berichten würden, ließ er allerdings offen.

Hardrath gestand ein, daß es bei der kritisierten derzeitigen Abschiebepraxis abgelehnter Asylbewerber Nachholbedarf gäbe. Schuld sei aus seiner Sicht in erster Linie Bundesaußenminister Kinkel, weil mit einer Reihe von Herkunftsländern, die ihre Bürger nicht mehr zurücknehmen wollen, dieses Problem immer noch nicht geklärt sei.

Bernd Faulenbach konstatierte, daß es bei immer mehr Normalbürgern zur Entfremdung von der Demokratie aufgrund gemachter Komplexitätserfahrungen komme, da für sie viele Bewegungsabläufe der Politik nicht nachvollziehbar seien. Es herrsche ein diffuses Gefühl vor, daß endlich Ordnung geschaffen werden müsse.

Bernd Wagner ergänzte, in Deutschland bestünde zusätzlich das Problem, daß die Frage der nationalen Identität nicht geklärt worden sei. Bernd Faulenbach bestätigte, daß es in Deutschland eine Anomalie beim Nationalbewußtsein gäbe. Es müsse deshalb eine Neudefinition der Nation geben. Er brachte die Erkenntnis der Meinungsforscher, daß derzeit in Deutschland bis zu 12 Prozent der Wähler sich für rechte Parteien entscheiden würden. Laut Aussage der Meinungsforscher sei diese Zahl aber nicht unnormal, in den westlichen Demokratien läge dieser Wert im Durchschnitt bei 20 Prozent.

Unter Hinweis auf die Ausführungen Hardraths zur Abschiebepraxis forderte Glogowski in seinem Schlußplädoyer, ausländische Straftäter konsequent abzuschieben. "Wer Gast sein will, muß das Gastrecht akzeptieren!" sagte er wörtlich. Auf einen Vorfall in seinem Bekanntenkreis eingehend, bei dem ein Freund von ihm brutal von einer Rumänenbande zusammengeschlagen worden war, gab Glogowski zu bedenken, daß die Akzeptanz in der Bevölkerung gegenüber kriminellen Ausländern gegen Null gehe. Deshalb sei es notwendig, daß wer als Ausländer zu drei Jahren oder mehr verurteilt wurde, ausgewiesen werden muß.

Diese selbstverständlichen Aussagen stießen aber nicht bei jedem Gast auf Zustimmung. Tom Kucharz, einer der bekanntesten Vertreter des linksextremistischen Dresdner Infoladens und zeitweiliger Mitarbeiter eines PDS-Landtagsabgeordneten, meldete sich lautstark zu Wort: "Ich fordere Sie auf, Herr Glogowski, diese Aussagen sofort zurückzunehmen. Es sind nicht alle Ausländer kriminell!" Solch eine Feststellung ist besonders interessant von jemand zu vernehmen, der wie Kucharz gerade eine Strafanzeige der Stadtverwaltung Dresden wegen Urkundenfälschung am Hals hat, weil er für ein linksautonomes Chaotenfest in der Dresdner Neustadt die Anmeldung beim Ordnungsamt dilettantisch zusammengebastelt hatte.

Zum Schluß kam es noch zu einer eigenartigen Erfahrung mit dem Demokratieverständnis des DGB-Vorsitzenden Lucassen, der eine von Gewerkschaftshelfern am Ende an die Teilnehmer eine zweiseitige Dresdner Erklärung zum Umgang mit Neonazismus und Rechtsextremismus präsentierte – "verabschiedet von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Veranstaltung des DGB-Bildungswerkes, des Herbert-Wehner-Bildungswerkes und der Friedrich-Ebert-Stiftung".

Eine Abstimmung darüber hat während oder nach der Veranstaltung allerdings gar nicht stattgefunden; auch hat kein Teilnehmer seine Unterschrift unter das Blatt oder in eine Liste gesetzt. Diese Vereinnahmungspraxis ist insbesondere für den DGB als offensichtlichen Initiator dieser Erklärung außerordentlich fragwürdig, doch scheint dies niemandem aufgefallen zu sein. Ist dort am Ende ein solches Verhalten üblich?


 
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