© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/98 07. August 1998

 
Polen- Ein schwieriger Nachbar
von Jürgen Heuchling

Die Verleihung des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen an den polnischen Außenminister Bronislaw Geremek bietet Anlaß, sich mit unserem östlichen Nachbarn und der leidvollen Vergangenheit zwischen Deutschland und Polen zu befassen, die, wie Geremek in seiner auf Deutsch gehaltenen Rede äußerte, bis heute einen langen Schatten auf diese Beziehungen wirft und bis zum heutigen Tage der Bewältigung durch Aussöhnung harrt. Dabei ist dieses Verhältnis, wie schon in der Vergangenheit, durchaus ambivalent, besteht doch zwischen der Freiheit Polens und der Vereinigung Deutschlands eine wechselseitige Wirkung.

Grund genug also, einen Blick in die Vergangenheit und Gegenwart der deutsch-polnischen Beziehungen zu werfen. Diese Beziehungen haben nicht erst mit den oft zitierten "Greueln des Dritten Reiches" angefangen. Das neudeutsche "Mea-culpa"-Gerede und die Dauerzerknirschung stört nicht nur viele Nicht-Deutsche an den Deutschen, es wird auch für unglaubwürdig gehalten. Betrachtet man nämlich die geschichtlichen Rückgriffe vieler Beiträge zu diesem Thema, fällt auf, daß die Darstellung oft recht einseitig zu Lasten deutscher Schuld und Verantwortung geschildert wird. Ausgewogeneren Darstellungen droht zudem oftmals der Vorwurf der Aufrechnung oder der Verunglimpfung durch den Faschismus-Verdacht. Aber eine falsche Geschichte führt zu einer falschen Politik, wie der polnische Historiker Szujski erkannte. Und überhaupt – kann die Aufarbeitung historischer Fragen anders erfolgen als durch Vergleich und Wahrheit?

Was war Polen denn aus deutscher Sicht? Es war einer von drei Nachbarn im Osten und in machtpolitischer Hinsicht – außer in den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg – von nur untergeordneter Bedeutung, im Gegensatz zu den existenziellen Beziehungen zu den europäischen Großmächten Frankreich und Rußland. Der Beginn der etwa tausend Jahre deutsch-polnischer Beziehungen läßt sich festmachen an ersten und zugleich feindseligen Begegnungen im Jahr 963 im Rahmen eines beiderseitigen Vordringens in den Raum der zwischen ihnen siedelnden westslawischen Stammesverbände; aber schon in den Jahren 967 und 973 steht der inzwischen Christ gewordene und mit einer böhmischen Prinzessin verheiratete Herzog von Polen als "Freund" und "Getreuer" in einem festen Verhältnis zum deutschen Kaiser, dem er für das Gebiet bis zur Warthe Tribut zahlt, und auf gleicher Rangstufe wie der Herzog von Böhmen und der Markgraf der Ostmark. Das Verhältnis der beiden Reiche ist bestimmt durch einen steten Wechsel polnischen Strebens nach Selbständigkeit sowie Gleichberechtigung und deutlicher Abhängigkeit vom Deutschen Reich, sehr viel seltener dagegen von Zeichen feindlicher Auseinandersetzungen, oft jedoch sind sie Verbündete. – Wie beispielsweise gegen die heidnischen Liutizen. Mit Hilfe des deutschen Kaisers Otto III. wird durch die Erhebung Gnesens zum Erzbistum die polnische Kirche unabhängig vom deutschen Episkopat. Der polnische Herzog wird nun zum "Bruder und Mitarbeiter im Reich". Nach dem Tode Kaiser Ottos verschlechterten sich zwar die Beziehungen, und Kaiser Heinrich II. führt sogar bis zum Jahre 1018 drei Kriege gegen den polnischen Herzog. Aber schon im selben Jahr kommt es auch zu einer deutsch-polnischen Waffenbrüderschaft und einem gemeinsamen Kriegszug gegen Kiew, wodurch der Versuch der russischen Großmacht scheiterte, durch ein Bündnis mit dem deutschen Kaiser Polen in einen Zweifrontenkrieg zu verwickeln. Das Deutsche Reich rettete damals Polens Selbständigkeit und Unabhängigkeit.

Später, etwa im Jahre 1157 durch Kaiser Friedrich Barbarossa, wird noch gelegentlich durch militärische Aktionen die Lehnshoheit des Reiches über Polen in Erinnerung gebracht, bis sie gegen Ende des 12. Jahrhunderts allmählich in Vergessenheit gerät. Der Feldzug des Jahres 1157 war im übrigen bis zum Jahre 1939 der letzte, den das Deutsche Reich als solches gegen Polen führte, denn alle späteren Auseinandersetzungen betrafen nur deutsche Einzelstaaten.

Eine grundlegende Wende im deutsch-polnischen Verhältnis leitete der "große Krieg" und die Schlacht von Tannenberg (von den Polen Grunwald genannt) am 15. Juli 1410 ein, die in der romantisierenden Sicht des 19. Jahrhunderts zumeist als die entscheidende Niederlage des Deutschtums gegen das Slawentum angesehen wird, obwohl die Zeitgenossen im Ergebnis der Schlacht lediglich eine Niederlage des Deutschen Ritterordens und einen Sieg des polnischen Königs sahen. So feierte in Polen beispielsweise noch am 10. Juli 1987 das Allpolnische Grunwald-Komitee den "ruhmreichen Sieg" als einen Höhepunkt polnischer Waffenerfolge, der den "deutschen Drang nach Osten" für lange Zeit aufgehalten habe; der Sieg in Berlin von 1945, so General Szacilo, habe die Ausgangspositionen von vor tausend Jahren wieder hergestellt.

Bis zur bismarckschen Reichsgründung tritt auf deutscher Seite das Reich unter den Habsburgern weiter zurück hinter die stärker in den Vordergrund tretenden Einzelstaaten Brandenburg-Preußen, Sachsen und Österreich, in deren Grenzbereichen die polnische Bevölkerung durchaus in einem gedeihlichen Miteinander lebte, wie es Hans Lipinsky-Gottersdorf in seinen Romanen wie "Die Prosna-Preußen" liebevoll beschreibt. Die Beteiligung Österreichs und Preußens an den polnischen Teilungen sollte nicht vergessen lassen, daß die Teilungen von der seit Peter dem Großen machtpolitisch stärksten Macht im Osten, Rußland, dominiert wurde.

Ein weiteres Ereignis von herausgehobener Bedeutung in den deutsch-polnischen Beziehungen war die den Deutschen leider nicht gedankte Ausrufung eines Königreiches Polen am 5. November 1916 durch das Deutsche Reich und Österreich. Mit dem Aufstand in Posen Ende 1918 und der durch den Vertrag von Versailles sanktionierten Entreißung nahezu der gesamten Provinz Posen, dem größten Teil Westpreußens, der Weichselniederung, einem Großteil Oberschlesiens und der sogenannten Freien Stadt Danzig unter dem Schutz des Völkerbundes, aber mit bevorzugter Stellung Polens ging Deutschland ein Gebiet von 43.000 Quadratkilometern und einer Bevölkerung von 3 Millionen Einwohnern verloren. Das neuentstandene Polen hatte sich eine deutsche Minderheit einverleibt, der die wesentlichen politischen und kulturellen Selbstbestimmungsrechte vorenthalten wurden. Kriegerische Gewaltunternehmungen regulärer und irregulärer Kräfte legten den Grund für starke politische Emotionen. Die dabei polnischerseits verübten Gewaltakte, das Vorenthalten jener in der Genfer Konvention vom 15. Mai 1922 festgelegten Minderheitenrechte der Deutschen hinsichtlich der Errichtung von Schulen, wirtschaftlicher und verkehrstechnischer Verbindungen ins Reich, des Gebrauchs der Muttersprache und kultureller Eigenständigkeiten, haben viel böses Blut verursacht. Polnische Übergriffe in der Freien Stadt Danzig sowie grenznahe Manöver und eine umfangreiche, mit Frankreich abgesprochene Präventivkriegsplanung mit einem vorgesehenen Marsch auf Berlin taten ein übriges und führten zu einem antipolnischen Konsens fast aller Parteien in der Weimarer Republik.

Die Geschehnisse während des Zweiten Weltkrieges dürfen inzwischen als allgemein bekannt vorausgesetzt werden. Weniger bekannt und vielfach in Polen wie in Deutschland bestritten, sind die von polnischer Seite erfolgten Verhaftungen nach vorbereiteten Listen, Deportationen, Mißhandlungen und verfahrenslosen Erschießungen, die hohe Opfer unter der deutschen Minderheit im damaligen Polen forderten. Am bekanntesten wurden die Ereignisse des sogenannten "Bromberger Blutsonntag" am 3. September 1939, an dem allein tausend Deutsche getötet wurden.

Die im Gefolge der Konferenzen von Potsdam und Jalta erfolgte "Westverschiebung" Polens mit der Abtrennung der Gebiete östlich von Oder und Neiße, aber auch der Annektierung Ostpolens durch die Sowjetunion erfolgte über die Köpfe der Deutschen, aber auch der Polen hinweg, denen ihre östlichen Landesteile entrissen und dafür die ostdeutschen Gebiete als Beute zugeteilt wurden, deren nach Millionen zählende deutsche Bevölkerung aus ihrer angestammten Heimat vertrieben wurde. Ob sich Deutsche der Untaten ihrer Altvorderen schämen müssen, ist vermutlich eine Frage, die sich nur in Deutschland stellt und so weder in England, Frankreich, den USA, Rußland noch auch in Polen denkbar ist.

Das gegenwärtige deutsch-polnische Verhältnis ist maßgeblich beeinflußt von den Ergebnissen des Zweiten Weltkrieges, das heißt von der Abtrennung Ostdeutschlands und vor allem der jedem geltenden Völkerrecht widersprechenden Vertreibung der einheimischen Bevölkerung. Es hat deutscherseits, zuletzt 1990, einen, wenngleich völkerrechtlich umstrittenen, vertraglichen Verzicht auf jene Gebiete gegeben und damit eine Sanktionierung der Vertreibung einer Bevölkerung, die noch am ehesten die Brücken einer Verständigung zu bauen in der Lage gewesen wäre. Ein gutes Einvernehmen mit unserem Nachbarn im Osten ist wünschenswert. Aber die Notwendigkeit eines für die Zukunft wirklich beständigen Einverständnisses schließen Verträge aus, die die Kennzeichen einseitiger Erzwungenheit tragen und die daher bei jeder getroffenen Übereinkunft den Keim des Zweifels säen. Die Frage der Folgen der Vertreibung bleibt ein Tabu. Um so mehr, als bereits Winston Churchill davon überzeugt war, daß durch die völlige Abtrennung der deutschen Ostprovinzen dieselben ein ständiger europäischer Unruheherd bleiben würden.

Welche Folgerungen ergeben sich dadurch für die Zukunft? Ein wirklicher Neuanfang in den deutsch-polnischen Beziehungen muß mit der wahren Darstellung und der Aufarbeitung der geschichtlichen Gegebenheiten beginnen, woraus auch die Anerkennung von Schuld und Verbrechen erwachsen müßte. – Womöglich ist das aber schon der schwierigste Punkt, denn damit verbunden ist die Frage, welche Konsequenzen sich daraus auf politschem Feld ergäben, da doch aus der einseitigen geschichtlichen Darstellung die moralische Rechtfertigung der territorialen Inbesitznahme abgeleitet wurde. Andererseits: Welchen Sinn hat eine Aufarbeitung, wenn daraus keine Konsequenzen gezogen würden und alles beim alten bliebe?

Die über Generationen von Feindlichkeit und Abneigung geprägten Beziehungen zwischen Polen und Deutschland hätten, wie Geremek in Aachen äußerte, mit dem Zusammenbruch des Ostblocks eine überraschende und wundervolle Veränderung erfahren. Walte Gott, daß es so bleibt! Guter Wille kann viel bewirken. Aber aus der Betrachtung der Geschichte ist auch zu ersehen, daß festgefügt erscheinende Verhältnisse nicht ewig Bestand zu haben brauchen und daß das Unrecht der Landnahme keine dauerhafte Basis für eine gute Beziehung ist. Denn wie mahnt schon die Bibel in den Sprüchen Salomons: "Verrücke nicht die uralten Grenzen, die deine Väter gemacht haben."


 
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