© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/98 07. August 1998

 
W. Kraushaar (Hrsg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung
Vorbilder: Stalin und Mao
von Werner Olles

Wer weiß noch, daß Hans-Jürgen Krahl, der "Chefideologe" des SDS, der 1970 bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, der Familie eines Grafen von Hardenberg entstammte und Mitglied im Ludendorff-Bund war, in seiner Heimatstadt die Junge Union gründete und einer schlagenden Verbindung beitrat? Wer erinnert sich heute noch an den "Senghor"-Prozeß, bei dem vor dem Frankfurter Landgericht die Studenten K.-D. Wolff, Günther Amendt und Hans-Jürgen Krahl wegen "Rädelsführerschaft" auf der Anklagebank saßen? Wer kennt heute noch den Briefwechsel zwischen Adorno und Marcuse? All dies und noch viel mehr kann der interessierte Leser den drei Bänden "Frankfurter Schule und Studentenbewegung" von Wolfgang Kraushaar entnehmen. Der Herausgeber hat Dokumente, Bilder und Aufsätze gesammelt, die bereits heute von unschätzbarem zeitgeschichtlichen Wert sind. Daß ihm dabei – wie Dietrich Schwanitz in der FAZ behauptete – die nötige Distanz fehle, mag wohl sein, ist aber dennoch kein Manko. Es geht Kraushaar nämlich weniger um Rechtfertigung oder nostalgische Reminiszenzen als um die historische Aufarbeitung einer Epoche, die für die Bundesrepublik Deutschland von einer gewissen kulturgeschichtlichen und sozialphilosophischen Bedeutung ist.

Daß die kritische Beurteilung des Sujets an einigen Stellen wahrlich zu kurz gekommen ist, soll nicht verschwiegen werden. Wenn etwa der SDS-Bundesvorsitzende Wolff während eines USA-Aufenthaltes vor den sogenannten "Untersuchungsauschuß für innere Sicherheit des US-Senats" geladen wird, die Ausschußmitglieder als "Banditen" bezeichnet und trotzdem die Befragung unbehelligt verläßt, sagt das viel aus über die Behandlung Oppositioneller in einer Demokratie westlichen Zuschnitts. Bei den "Weltjugendfestspielen" in der bulgarischen Hauptstadt Sofia dagegen wurde Wolff von Geheimpolizisten und traditionalistischen SDS-Mitgliedern aus Köln und Bonn schwer zusammengeschlagen, weil er mit ein paar Getreuen mit Che-Guevara-Plakaten vor dem US-Konsulat gegen den Vietnam-Krieg demonstrieren wollte. Daß die radikale Linke diese grundlegenden Unterschiede zwischen einer kommunistischen Diktatur und einer liberalen Demokratie bis heute nicht richtig zur Kenntnis genommen hat, ist schon der Kommentierung wert.

Es fällt auf, daß Kraushaar die Gewalttätigkeiten weitestgehend ausspart. Die jungen Leute auf seinen Bildern sind angeregt debattierende Studenten, die Demonstrationsszenen von heiterer Leichtigkeit. Wer – wie der Rezensent – damals dabei war, kann sich noch sehr gut an jene schreckliche Szene erinnern, als ein Demonstrant – heute als Europa-Abgeordneter in Amt und Würden – den Kopf eines bereits durch einen Steinwurf verletzten Polizisten mit seinen schweren Stiefeln traktierte und von den umstehenden Genossen von dem übel zugerichteten Mann weggezogen werden mußte. Solche Bilder reiner Mordlust gab es fast bei jeder Demonstration. Unklar ist auch, warum die SDS-Nachfolgeorganisation "Revolutionärer Kampf" in Wort und Bild ausführlich vorgestellt wird – vielleicht nur deshalb, weil aus ihr so prominente Zeitgenossen wie Josef Fischer, Daniel Cohn-Bendit und Matthias Beltz kamen. Vernachlässigt wird dagegen ein anderer SDS-Nachfolger, das "Black Panther Solidaritätskomitee" und die daraus entstandenen "Roten Panther". Diese Gruppe war im Prinzip nichts anderes als der legale Arm der Terror-Organisation "Revolutionäre Zellen". Selbst die Mitgliederstruktur überschnitt sich. "Rote Panther" waren der Carlos-Assistent Johannes Weinrich und der in Entebbe von einem israelischen Spezialkommando zusammen mit seiner Freundin Brigitte Kuhlmann erschossene Winfried Böse. An der mittels eines präparierten Autos durchgeführten Bewaffnung einer anderen Terroristin im nächtlichen Frankfurter Westend nahm der Rezensent selbst teil, an der wenig später stattfindenden Schießerei mit einer Gruppe Zivilfahnder Gott sei Dank nicht mehr.

Es ist eine Sache, Gewalt ästhetisch zu kultivieren und damit zu exkulpieren und eine ganz andere, ihr mutig entgegenzutreten. Einer der wenigen, die damals nicht vor den Attacken des SDS zurückwichen, war der sozialdemokratische Professor Carlo Schmid, der sich darauf berief, keine beliebige Diskussion, sondern eine Vorlesung zu halten und sich der ihn bedrängenden Studenten auch physisch zu erwehren wußte. Dem Bild des SDS-Vorsitzenden Wolff von Stalin als "großem antiimperialistischen und revolutionären Kämpfer und Führer" entsprach die Huldigung der 68er für weitere Massenmörder und Schlächter wie Kim Il Sung und Mao Tse Tung. 30 Jahre früher hätten die gleichen Leute vermutlich Hitler ebenso fanatisch verehrt.

Wen dies nicht schreckt, der wird jedoch über die "Neuen Linken" von 1967/68 eine Fülle von Fakten erfahren und Materialien einsehen können, die den Atem stocken lassen. Er wird auch erkennen, mit welcher Ignoranz, Arroganz und Aggressivität die 68er ihre analytische Einseitigkeit und ideologische Fixiertheit in die politischen Auseinandersetzungen jener Jahre einbrachten. Es war die Ignoranz einer Scheinobjektivität, die den Denkstil der Linken prägte und die in dem totalitären Anspruch mündete, darüber zu entscheiden, was die Menschen für ihre Interessen, ihr Glück oder Unglück hielten. Dies verband sich zu einer unangenehmen Melange aus politischer Utopie und oberflächlichem Idealismus.

Die Neue Linke zeigte sich in ihrer Kritik an Staat und Gesellschaft, vor allem aber an der Wirtschaft, unfähig, Politik anders zu verstehen denn als höchstmögliche Bedürfnisbefriedigung. Klopft man heute beispielsweise die "Berliner Debatte", die Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Wolfgang Lefèvre über die Arbeits- und Lebensbedingungen der (West-)Berliner Bevölkerung nach der erfolgreichen Revolution führten, auf ihre volkswirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aspekte ab, wird erkennbar, welche politische Unbedarftheit hinter ihren Forderungen steckt. Verlangt werden die "Abschaffung der Arbeitsteilung", die Einrichtung von "Räteschulen, in der jedermann Lehrender und Lernender zugleich ist", die "Auseinanderreißung der Städte", die "Abschaffung des Justizapparates" oder die "Aufhebung der Trennung des Arbeiters von seinem Betrieb". Die "Lohnabhängigen" sollten in der Fabrik wohnen, sich in Großküchen verpflegen und ihren Feierabend im Kommune-Kollektiv verbringen.

Wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Analphabeten fühlten sich von derartigem Humbug angesprochen. Eine bewußte Konzeptionslosigkeit wurde zum Alibi für den Mangel an theoretischer Reflexion und führte zu einer völlig irrationalen Handlungsorientierung, einer radikalen Praxis um der Radikalität und der Praxis willen. Dieser Versuchung erlagen die Schüler der "Frankfurter Schule" sehr schnell. Ihre Konzeption der Räte als Organe einer radikaldemokratischen Selbstregierung der Massen war epigonal und gab noch nicht einmal die Lehren ihrer Lehrmeister Lenin, Trotzki und Marx richtig wieder. Die unfaßliche Primitivität der neulinken Utopien wurde durch die Redegewandtheit, den Bluff und das gekonnte Spiel mit ihren Bewunderern ausgeglichen. Die sich bildenden Gefolgschaften und Männerbünde verstanden sich als "Aufklärungsbewegung mit endzeitlichen Ambitionen" (Erwin K. Scheuch).

Der totalitäre Charakter ihres Glasperlenspiels verbarg indes nur eine einzige totale Wahrheit: Um die Verhüllung des eigenen Herrschaftsanspruchs zu legitimieren, war es notwendig, zunächst die Bedeutungshoheit über die Worte und Begriffe zu erlangen. Und gerade hier war der Sieg vollkommen, war die Niederlage der "Etablierten" klar und eindeutig. Der Sperrgürtel, den die 68er um alles legten, was ihr linksradikales Fundament in Frage stellte, war in der Tat weitaus wirkungsvoller als jede revolutionäre Theorie zuvor. Dennoch sind die drei Bände von Wolfgang Kraushaar nur vordergründig ein befreiendes Halleluja oder ein wehmütiger Abgesang auf die überstandene Revolte. Wenn man sie aufschlägt, weiß man plötzlich wieder, wie das war. Damals ’68.

Wolfgang Kraushaar (Hrsg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946–1995, 3 Bde., Rogner & Bernhardt bei Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1998, 1816 Seiten, zahlr. Abb., geb., 75 Mark.


 
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