© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/98 14. August 1998


Stresemann: Vor 75 Jahren wurde der Nationalliberale deutscher Kanzler
Für Reich und Republik
von Axel Hahn

Noch im November 1918 wollte die gerade neugegründete Sammlungspartei "Deutsche Demokratische Partei" (DDP) den späteren ersten deutschen Friedensnobelpreisträger nicht in ihre Reihen aufnehmen. Gustav Stresemann, dem letzten Fraktionsvorsitzenden der sich auflösenden Nationalliberalen Partei im Reichstag und einstmals jüngsten Reichstagsabgeordneten im Kaiserreich, wurde der Eintritt brüsk und in beleidigender Form verweigert. Dieser – und nur dieser – Umstand führte zur Gründung einer zweiten liberalen Partei in Deutschland, der "Deutschen Volkspartei" (DVP). Das größte politische Talent der Weimarer Republik – und nachmals ihr einziger Staatsmann von internationalem Rang – ließ sich nicht ausgrenzen.

Gustav Stresemann, Berliner, Sohn eines Biergroßhändlers, promovierter Volkswirt und Syndikus des Verbandes Sächsischer Industrieller, scharte die Reste der Nationalliberalen Partei um sich und hatte Erfolg: Bei den Wahlen zur Nationalversammlung 1919 noch bei knapp fünf Prozent gelegen, konnte die DVP schon im Jahr darauf ihren Stimmenanteil verdreifachen und die DDP überflügeln. Fortan blieb sie bei Wahlen stets stärker als ihre linksliberale Schwesterpartei.

Stresemann charakterisierte den Standort seiner Partei in einem Brief vom 1. Dezember 1918 so: "In den nationalen Fragen gehen wir mit den rechtsstehenden Parteien, weil wir hierfür bei der Linken kein Verständnis finden. Wir können aber die innere Politik der Konservativen nicht mitmachen, und bei Fragen der inneren Politik findet man uns auf der linken Seite."

Was er darunter verstand, erläuterte er in einem Aufsatz vom selben Monat. So bekannte er sich nicht bloß zur liberalen Weltanschauung, sondern auch zum sozialen Ausgleich. Er warnte: "Gerade die republikanische Staatsform bedarf starker Kautelen, wenn sie uns nicht statt eines Volksstaates einen mammonistisch-kapitalistischen Staat bescheren soll." Weder Sozialismus noch "Herrschaft des mobilen Kapitals", sondern "Verständigung mit Angestellten und Arbeitern auf der Grundlage neuer moderner Rechtsformen", die soziale Volksgemeinschaft auf privatwirtschaftlicher Basis war sein Ziel.

Dennoch war die DVP früh die Partei der deutschen Industrie. Ein Mann wie Hugo Stinnes, Inflationsgewinnler und Demokratieverächter, gewann zeitweilig beträchtlichen Einfluß in ihr. Ihren Wahlerfolg von 1920 erzielte die DVP unter dem Slogan "Von roten Ketten macht Dich frei – Allein die Deutsche Volkspartei!"

Nach 1920 war Deutschland nur zu regieren, wenn es gelang, das antirevolutionäre Bürgertum mit der neuen Staatsform zu versöhnen. Dieses war um so dringlicher, als auch auf der Linken die Zustimmung zum Staat von Weimar schwand. In dieser Lage setzte Stresemann die Beteiligung seiner Partei an Koalitionen durch, denen auch die SPD angehörte. Das führte zu innerparteilichen Spannungen. Es kennzeichnet Gustav Stresemann, seinen Patriotismus und sein tiefempfundenes Verantwortungsgefühl – die vielleicht stärksten Triebfedern seiner Persönlichkeit –, daß er, ohne doch seine Überzeugungen preiszugeben, der konkreten Verantwortung nie auswich. "Kein Opfer von Grundsätzen, namentlich auf nationalem Gebiet. Grundsätze können zurückgestellt, sie können niemals aufgegeben werden", rief er den Delegierten seiner Partei auf dem Stuttgarter Parteitag von 1921 zu.

Dieses Motto galt im besonderen für seine Kanzlerschaft, die er am 13. August 1923 antrat. Schon im Mai 1921 war er – 43jährig – als Kanzlerkandidat im Gespräch. Zur gleichen Zeit erwog die Zentrumsfraktion die Kandidatur eines zwei Jahre älteren Rivalen, des Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer. Reichspräsident Friedrich Ebert berief schließlich keinen von beiden, doch zwei Jahre später, in der schwersten Krise der jungen Republik, schlug die Stunde des jüngeren.

Nichts weniger als die Existenz von Reich und Republik stand im Spätsommer und Herbst 1923 auf dem Spiel: Im Frühjahr hatten die Franzosen und Belgier das Ruhrgebiet besetzt, der passive Widerstand gegen diesen rechtswidrigen Akt hatte zum Zusammenbruch der Kohleversorgung und der Finanzen geführt. Die Reichsmark befand sich im freien Fall: Im Oktober kostete ein Dollar schließlich 4,2 Billionen Mark. Der Abbruch des passiven Widerstandes wurde unvermeidlich. Der endgültige Verlust des Rheinlands an Frankreich stand zu befürchten. Wer wollte in dieser Situation die Verantwortung übernehmen?

Stresemann bildete eine Regierung der Großen Koalition. Als Reichsfinanzminister trat der führende Theoretiker des linken Flügels der SPD und Autor des Buches "Das Finanzkapital", Rudolf Hilferding, dem Kabinett bei. Doch war es eine brüchige Mehrheit, die Stresemann hinter sich sammelte.

Die Krise spitzte sich nun zu. Im Rheinland putschten die Separatisten, offen gefördert durch die Besatzungsmacht. In Sachsen und Thüringen nahmen Sozialdemokraten Kommunisten in die Regierung auf und bewaffneten "proletarische Hundertschaften". In Hamburg brach auf Weisung der Komintern in Moskau der bewaffnete Aufstand der Kommunisten unter Thälmann los. Und in Bayern sammelte sich die militante Rechte unter Führung von Hitler und Ludendorff zum Marsch auf Berlin.

Was nun geschah, glich fast einem Wunder. In den nur hundert Tagen der Amtszeit des Reichskanzlers Stresemann wurden alle Probleme gelöst: Mit der Erklärung des Ausnahmezustands und Zwang unter Zuhilfenahme der Reichswehr das der Kommunisten, mit Abwarten, Glück und bayerischer Landespolizei das der rechten Putschisten vor der Münchner Feldherrenhalle, mit eiserner Haushaltsdisziplin und der Einführung der Rentenmark das der galoppierenden Inflation.

Die Währungsstabilisierung aber setzte die Lösung des schwierigsten Problems voraus: die Einstellung des Ruhrkampfs. Das bedeutete Unterwerfung unter die Erpressungspolitik Poincarés. Dieser Schritt erforderte persönlichen Mut, war er doch mit einem Risiko für Leib und Leben verbunden. Stresemann ging ihn. Den Anspruch auf Einheit und Unabhängigkeit der Nation jedoch hielt er ungebrochen aufrecht. Aus dem Eingeständnis der Ohnmacht wollte er eine Politik der moralischen Stärke machen, die Deutschland aus der politischen Isolation befreien sollte. Wahrung der Reichseinheit als Voraussetzung für die Stabilität Europas war sein Konzept. Auf dem Höhepunkt der Ruhrkrise kam es dabei zu einem Zusammenstoß mit seinem Gegenspieler Adenauer, der für die Bildung eines Rheinstaates – innerhalb oder außerhalb des Reiches – warb.

Stresemanns Konzept erwies sich als das bessere. Die französischen Pläne zur Abtrennung des Rheinlandes scheiterten schließlich am Widerstand Großbritanniens und der USA. Da aber war Stresemann als Kanzler schon gestürzt. Die SPD hatte ihm aus Ärger über die Ungleichbehandlung von Sachsen und Bayern nach nur hundert Tagen das parlamentarische Vertrauen entzogen. So zornig wie vergeblich ließ Reichspräsident Ebert seine Genossen wissen: "Was euch veranlaßt, den Kanzler zu stürzen, ist in sechs Wochen vergessen, aber die Folgen eurer Dummheit werdet ihr noch zehn Jahre lang spüren."


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