© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/98 21. August 1998


Kolumne
Bleierne Zeit
von Hans-Helmuth Knütter
 

Wirklich, wir leben in einer seltsamen Zeit. Alles ändert sich, wird fragwürdig, kommt ins Rutschen. Aber zum Schluß bleibt doch alles, wie es war. So entsteht der Eindruck bleierner Unbeweglichkeit. Jeder spürt das Unnatürliche der Ruhe, fürchtet aber die Veränderung. Vor 1945 gab es das zynische Wort: "Genieße den Krieg, der Friede wird schrecklich!" Heute gilt: "Genieße den Augenblick. Niemand weiß, was die Zukunft bringt, aber jedenfalls nichts Gutes." Während um 1968 bei vielen die Visionen einer neuen, besseren Welt den Veränderungswillen beflügelte, gibt es heute keine großen Visionen mehr.

Den gegenwärtigen Wahlkampf prägt diese Mentalität. Er ähnelt dem, was man 1939/40 drôle de guerre nannte: Zwischen Polen- und Frankreichfeldzug herrschte ein seltsamer Schwebezustand, weder Krieg noch Friede. Aber ab Mai 1940 wurde der Kampf blutig und steigerte sich bis zum Horror-Finale. Diese Wahlkampagne wirkt ähnlich. Schröder wird als der bessere Kohl hingestellt, und Änderungen werden uns versprochen, damit alles bleibt, wie es ist. Was die Politiker vom "mündigen Bürger" halten, beweisen sie mit der naiven Feststellung, sie wollten die Sorgen, Wünsche, Sicherheitsbedürfnisse der Bevölkerung "ernst nehmen". Ja, sollte denn das nicht selbstverständlich sein? Offenbar nicht, denn bekannte Politiker schlagen ohne Hemmungen öffentlich vor, wichtige Fragen wie Asyl und Euro nicht zum Gegenstand des Wahlkampfes zu machen. Von wegen "mündig"! Manipulation statt Aufklärung. Oligarchie statt Demokratie.

Läuft die Entwicklung auf weniger Freiheit, auf mehr Bevormundung hinaus? Kurz vor dem Ende der DDR bezeichnete der Bürgerrechtler Rolf Henrich das System als einen "vormundschaftlichen Staat". Aber zum Manipulieren gehören zwei – einer, der’s tut und einer, der es sich lethargisch gefallen läßt. Die Mentalität der deutschen Bevölkerung ist nicht in Ordnung. Elisabeth Noelle-Neumann stellte fest (FAZ, 23.2.1998): "Unsere Gesellschaft steht dicht vor einer Rückkehr zum sozialistischen Verständnis von Freiheit: Freiheit, wie sie der Staat gewährt." Mit der Drohung wirtschaftlicher und sozialer Nachteile konnte man bisher die Wähler disziplinieren. Aber wachsende Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Unsicherheit machen dieses Drohinstrument unwirksam. Viele möchten am liebsten nichts ändern, aber alle merken: Es bleibt nicht so. Die Dinge kommen ins Rutschen. Noch ist alles in Ordnung – äußerlich. Noch funktionieren die Straßenbeleuchtung, die Müllabfuhr, die Auszahlung der Gehälter und Renten. Noch… Aber warte nur, bald…Stille vor dem Sturm. Die bleierne Zeit geht vorüber. Die nächste Wende kommt bestimmt. Nur wer vorbereitet ist, hat Aussicht, in den Turbulenzen zu bestehen.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen