© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/98 21. August 1998


Pankraz, B. Neumann und der Treppenwitz von Brühl 

Exakt zweihundertfünfzig Jahre ist es jetzt her, da vollendete der Barockbaumeister Balthasar Neumann eines seiner großartigsten Werke, an dem er fünf Jahre lang gearbeitet hatte: das machtvolle, unerhört elegante Treppenhaus von Schloß Brühl bei Bonn, in dem heute hochoffizielle Staatsempfänge des Bundespräsidenten zelebriert werden und für das es künftig in Berlin nichts Vergleichbares geben dürfte. "Neumann vollendete" – das heißt aber in Wahrheit, daß er einfach aufhörte zu bosseln und zu planen und sich neue Effekte auszudenken, daß er voller Unzufriedenheit sagte: "Nun, die Sache ist fertig." Für vollendet hielt er sie deshalb noch lange nicht, weil er grundsätzlich jeder Art von Vollendung mißtraute.

Direkt vor dem Treppenbau von Brühl hatte er fast zwanzig Jahre lang am Treppenhaus der Würzburger Residenz herumgewerkelt. Sein fürstbischöflicher Auftraggeber mußte ihm buchstäblich die Maurerkelle aus der Hand winden, denn er wollte auch hier nicht fertig werden. Dabei war sich alle Welt längst einig, daß er etwas völlig Einmaliges, noch nie Dagewesenes geschaffen hatte, eine Treppenhauswölbung von einer Weite und Kühnheit, wie sie selbst Fachleute nicht für möglich gehalten
hätten.

Neumann betrachtete jede seiner steinernen Schöpfungen faktisch als "work in progress". Deshalb paßte er ja so genau in seine Zeit, deren sakrale und herrscherliche Bauten ihrer Intention nach ebenfalls nicht fertig werden wollten, sich alle gewissermaßen den Horizont offen hielten, damit die absolute Idee von Transzendenz und Herrschaft hineinscheinen konnte.

Das Schlüsselbauwerk der Epoche war die Treppe, die über ihre funktionale Bedeutung hinaus mit Sinn und Bedeutung aufgeladen wurde. Frühere Zeiten hatten die Treppe mehr oder weniger als "quantité négligeable" behandelt; man brauchte sie nun einmal, um Höhenunterschiede zu überwinden und Stockwerke miteinander zu verbinden. So klebte man sie als "Freitreppe" einfach von außen an das Gebäude oder versteckte sie in abseitigen Treppentürmen, zurrte sie dort, in Gestalt der "Wendeltreppe", zur engen Qualspirale zusammen, der die Benutzer so schnell wie möglich zu entkommen suchten. Das Barock änderte das also, und Balthasar Neumann wurde sein Prophet.

Für Neumann waren Häuser in erster Linie "Treppenhäuser". die nach oben, ins Transzendente und Herrscherliche, führende Treppe war das Zentrum und der eigentliche Glanzpunkt des Hauses, und so baute er ihr prächtige, ausladende Räume, dichtete ihr Kurven und edle Schwingungen an, machte sie geeignet zur Entfaltung jener hofstaatlichen Repräsentation, die dem Barock so wichtig war, zur Darstellung des Ranges, den einer in der Hierarchie göttlich-geometrischer Vernunft beanspruchen durfte.

Die Treppe mit ihrem Zug von unten nach oben und von oben nach unten schuf überhaupt erst die Möglichkeit, Aufstieg und Herablassung und den Rang der Repräsentation, den einer einnahm, unübersehbar kenntlich zu machen. Deshalb wurde sie in den zeitgenössischen Fürstenspiegeln und höfischen Benimmbüchern auch meistens an vornehmster Stelle behandelt. In der Stellung des einzelnen zur Treppe spiegelte sich sein Schicksal.

Es gab nun die verschiedensten Treppen, die stets nur von bestimmten Funktionsträgern benutzt werden durften, u.a. den "escalier de la Reine", die Treppe der Königin. Und es war genau vorgeschrieben, wo auf der Treppe man sich bei den diversen Zeremonien zu treffen hatte.

Im "Lünig" von 1720, einem jener barocken Benimmbücher, lesen wir etwa: "Der Ambassadeur in seiner Residenz gehet bis auf die beiden letzten Stufen hinunter, um den vom König geschickten Kammerherrn zu empfangen. Bei den anderen hingegen bleibet er höher, so dass die Differenz in drei respectivo vier Stufen bestehet." Und natürlich gab es für jedes Stufenverhältnis spezielle Sprachregelungen, den "esprit d’escalier", den Treppenwitz, der offenbar schon damals als dürftig, weil allzu geregelt, empfunden wurde, weshalb er dann in weniger auf Rapräsentation bedachten Zeiten zum Synonym für besonders trübselige Pointen werden konnte, die einem nur "auf der Treppe" einfallen.

Wer einmal das Privileg genossen hat, an einem Bonner Staatsempfang auf der Treppe von Schloß Brühl teilnehmen zu dürfen, wird bestätigen, daß sich der Geist des Barock dort auch heute noch unüberhörbar zu Wort meldet. Die Treppenwitze, die bei einemsolchen Empfang ausgetauscht werden, sind an Hölzernheit (genauer: Treppenhaftigkeit) nicht zu überbieten. Es ist, als ob das berühmte Treppenhaus unabsichtlich seinen Tribut forderte, noch den abgebrühtesten Diplomatenhengsten die Sprache raubend, so daß sie nur geistentleerte Formeln von sich geben können.

Insofern bräuchte man es nicht zu bedauern, daß es im neuen Berliner Regierungs- und Schloßviertel keine den Neumannschen Treppen vergleichbare Installation mehr gibt und künftige Staatsempfänge dort wohl auf ebener Erde stattfinden werden. Die "Berliner Republik" soll ja nach Möglichkeit eine beredte, geistreiche, medienoffene Angelegenheit werden, kein Treppenwitz der Weltgeschichte.

Andererseits stehen die Neumannschen Barocktreppen für Formbewußtsein, würdige Repräsentation, Sehnsucht nach Transzendenz: alles Dinge, die auch einer "Berliner Republik" nicht schlecht zu Gesicht stünden. Schon deshalb sollte sich der Wiederaufbau des barocken Berliner Stadtschlosses nicht auf bloße Fassadenpflege beschränken, sollte auch der Rekonstruktion des Inneren Aufmerksamkeit widmen, nicht zuletzt der Schlüterschen "Gigantentreppe", die einstmals nicht weniger berühmt war als Neumanns Treppe in Brühl und die sogar einen Extraaufgang für Reiter hoch zu Roß aufwies. Dort könnten Staatsempfänge ohne fatale Treppenwitze stattfinden.


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