© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/98 28. August 1998


Sozialhilfe: Fast drei Millionen Menschen sind auf "Hilfe zum Lebensunterhalt" angewiesen
Zur Würde gehört Arbeit
von Kai Guleikoff 

In vier Wochen wählt das deutsche Volk seine Regierung. Gerechnet wird mit einer hohen Wahlbeteiligung, einem Erstarken der politischen Flügel und einer möglichen "Neuen Mitte" in Form einer Großen Koalition von SPD und CDU. Der Wähler beurteilt die Parteien nach dem Verhältnis von Wahlversprechen und realisierten Ergebnissen. Das soziale Profil und Verhalten von Politikern steht im Zentrum des Interesses.

"Erst kommt das Fressen und dann die Moral", verkürzte Bert Brecht, trifft aber damit auch heute die Stimmung der sozial Schwächsten, die heute Sozialhilfe im engeren Sinne beziehen. Im Deutschland des ausgehenden 20. Jahrhunderts bilden diese keine Randgruppe mehr innerhalb der Bevölkerung. Eine jährliche Zunahme um sieben Prozent muß befürchtet werden. Am Jahresende 1997 erhielten in Deutschland laut vorläufiger Ergebnisse des Statistischen Bundesamtes 2,92 Millionen Personen in 1,5 Millionen Haushalten "laufende Hilfe zum Lebensunterhalt"; das sind 3,6 Prozent der Bevölkerung.

Sozialhilfe wird gewährt, wenn die eigenen finanziellen Möglichkeiten restlos ausgeschöpft sind. Anspruch haben Deutsche und auch Ausländer, so diese eine Aufenthaltsgenehmigung haben. Der Ausländeranteil lag Ende 1997 bei 22,9 Prozent. Die Zahl der deutschen Empfänger ist stärker gestiegen als die Zahl der ausländischen Hilfebezieher (plus 4,9 Prozent).

Statistisch müßte jeder deutsche Staatsbürger 135.000 DM auf seinem Konto haben, denn das private Geldvermögen wird mit 5 Billionen DM veranschlagt. Einschließlich anderer Vermögensformen erhöht sich diese Summe auf geschätzte 15 Billionen DM Privatvermögen. Dieser ungeheure Reichtum konzentriert sich jedoch lediglich auf einen Bevölkerungsanteil von etwa drei Prozent. Mit dem Sparbuch sind derartige Rücklagen sicherlich nicht zu erreichen. Rainer Eppelmann, ehemaliger DDR-Bürgerrechtler und Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) sagte in einem Interview im Februar 1998: "Heute verfügen 2,5 Prozent der Deutschen über 80 Prozent des Produktivvermögens. Diese Minderheit bestimmt maßgeblich über Lebensqualität, Lebensbedingungen, über Arbeit und Arbeitslosigkeit von Millionen Menschen. Das ist undemokratisch." Die Worte dieses Mannes, der zu den 60 von der SED höchsteingestuften Staatsfeinden der DDR gehörte, haben die westdeutschen "Reichen und Schönen" zumindest irritiert. Dabei hat Eppelmann lediglich auf das Grundgesetz, Artikel 14, verweisen wollen. Dort heißt es im Absatz 2: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." Diese Aussage war bereits im deutschen Kaiserreich formuliert in der Aussage "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" – dies wurde auch damals wenig beachtet. Damals waren die Sozialdemokraten die heftigsten Verfechter dieser These. Die heutige Sozialdemokratie ist moderater. Sie sitzt indes auch in den Führungsetagen der Konzerne und Banken. Zum Wohle der Partei, versteht sich. Deshalb macht der Slogan von der "Neuen Mitte" auch Sinn. In den Aufsichtsräten ist die große Koalition bereits verwirklicht, die Bonn nun blüht.

Ende 1997 gab es 2,25 Millionen deutsche und 668.000 ausländische Empfänger von Sozialhilfe. Noch ist die Zahl dieser Leistungsempfänger in Westdeutschland und West-Berlin mit 3,8 Prozent Bevölkerungsanteil höher als in Mitteldeutschland und Ost-Berlin mit 2,5 Prozent. Die Steigerungsrate ist jedoch in den neuen Bundesländern deutlich höher: von 1996 auf 1997 um 23,9 Prozent (gegenüber 4,9 Prozent im alten Bundesgebiet). Die Verarmung im Beitrittsgebiet nimmt zu. Auch ein Ergebnis des Gemeinschaftswerkes "Aufbau Ost". Wie ein derartiger sozialer Zustand von der Wählerschaft bewertet wird, zeigen die knapp 13 Prozent DVU-Stimmen in Sachsen-Anhalt.

Besonders bedrückend ist der Anteil von Sozialhilfeempfängern bei alleinstehenden Müttern mit Kindern und bei Jugendlichen. Hier muß ein Sofortprogramm des Staates Abhilfe schaffen. Das Sorgentelefon für Kinder ist allenfalls ein Hilfsmittel, aber nicht die Lösung des Leidensdruckes. Einem Konservativen muß deshalb auch klar sein: Wer gegen Abtreibung ohne soziale Notlage ist, muß auch soziale Bedingungen gewährleisten, die der Entwicklung des Kindes bis zur wirtschaftlichen Eigenständigkeit förderlich sind. Auch das sind Investitionen, die Deutschland gesünder machen würden.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen