© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/98 28. August 1998


Kolumne
Systemverdruß
von Klaus Hornung 

In diesen Wahlkampfwochen geht wieder die Rede von der System- und Demokratieverdrossenheit durchs Land. Nach einer Umfragestudie des Berliner Wahlforschers Richard Stöß ist ein Drittel der Bundesbürger "systemverdrossen". Professor Jürgen Falter in Mainz hat nahezu 20 Prozent deutscher Wähler ausgemacht, die ihre Stimme "rechtsextremen" Parteien geben könnten.

Merkwürdig bleibt dabei nur, wie wenig nach den eigentlichenUrsachen dieser Entwicklung gefragt wird. Ohne Faschismuskeule und Political Correctness würde man bald erkennen, daß die Verdrossenheit sich weniger gegen Demokratie und Grundgesetz richtet (das ist zumeist der Irrtum oder Vorwand der Verfassungsschützämter) als gegen die Art und Weise, wie jene von Regierenden und Medien praktiziert werden. Es geht um die gewachsene Kluft zwischen dieser Praxis und den Interessen, Sorgen und Wünschen der real existierenden Bevökerung: die gegenüber den Eigenen (Botho Strauß) längst unzumutbare Asylpolitik oder in der Inneren Sicherheit um die Praktizierung von Täterschutz vor Opferschutz durch Politik, Gesetze und Rechtssprechung, ganz zu schweigen von der oft instinktlosen Neigung zur Selbstbedienung in der politischen und medialen Klasse. Schon vor über 30 Jahren hatte der liberale Heidelberger Politikwissenschaftler Dolf Sternberger deren Haltung als die von "Vormündern, Pflegern, Lehrern und Gouvernanten" bezeichnet. Was würde er erst heute sagen?

Publizistik und selbst die Wissenschaft haben sich angewöhnt, von den Verdrossenen abgehoben als den "Modernisierungsverlierern" zu sprechen. Hier werden also die Prozesse der Modernisierung und Globalisisierung als angeblich unaufhaltsame und autonome Vorgänge bezeichnet. Eben hier liegt aber der Hase im Pfeffer, sind doch diese im Zeichen des Turbokapitalismus ablaufenden Entwicklungen geeignet, die freiheitliche Demokratie auf Dauer zu ruinieren.

Wer sich dafür ausspricht, sie zu zähmen und zu gestalten und diese Aufgabe dem Staat und der Politik und dabei auch dem demokratischen Nationalstaat eine unverzichtbare Rolle zuweist, ist alles andere als ein Verfassungsfeind. Hier besteht Lern- und Nachholbedarf beim Establishment bis zum Verfassungsschutz. Zu solcher notwendigen neuen politischen Gestaltung sind aber nur Führungskräfte in der Lage, die dem Gemeinwohl und nicht Teilinteressen verpflichtet sind. Altmodisches wird wieder aktuell und supermodern.


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