© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/98 28. August 1998


Zar und Zarewitsch
von Kai Guleikoff 

Der Repräsentant der russischen Großmacht, Boris Jelzin, ordnete die fünfte Regierungsumbildung in sechs Jahren an. An derartige "südamerikanische Verhältnisse" hat sich offenbar das schweigende Volk und die staunende Welt gewöhnt. Der neue "Zarewitsch" ist ein altbekannter: Viktor Tschernomyrdin, am 23. März des Jahres entlassen und seit 24. August wieder im Amt des Ministerpräsidenten. Tschernomyrdin war wie Jelzin Angehöriger der Nomenklatura der Sowjetunion. Dieser Stallgeruch verbindet, besonders in stürmischen Zeiten. Es geht um die Existenz dieses Riesenreiches, daß fast ein Sechstel der Landfläche der Erde einnimmt. Der frostharte russische Winter steht vor der Tür, die beste Zeit für große Entscheidungen in und um Rußland. Doch keiner der Lenker im Kreml und im Moskauer Weißen Haus sieht einen Ausweg.

Ausländischen Investoren zeigen sich angesichts dieser Entwicklung sehr besorgt. An der Spitze der Gläubiger steht Deutschland mit etwa 60 Milliarden DM. Hinzu kommt der jährliche deutsche Export im Umfang von 16 Milliarden DM. Beide Positionen sind durch staatliche Hermesbürgschaften zu fünfzig Prozent für die Privatwirtschaft anteilig gesichert. Der Verlust würde daher wieder einmal den deutschen Steuerzahler beuteln. Wieder einmal haben die "Rußlandexperten" versagt, seit dem Einsatz des "Geheimagenten Lenin" in nicht abreißender Reihenfolge. Doch Schadenfreude ist fehl am Platze. Gerade Deutschland dürfte an einer weiteren Destabilisierung Rußlands kein Interesse haben. Tatsache ist, daß Russen im Privatbesitz von etwa 80 Milliarden US-Dollar Geldvermögen sind. Dieses Geld wird vorwiegend im Ausland deponiert oder angelegt. Auch die fidele Präsidententochter und besoldete "Beraterin", Tanja Jelzina, soll eine der Bedeutung des Vaters angemessene Villa in Garmisch-Partenkirchen gekauft haben. Dagegen nehmen sich die staatlichen Devisenreserven Rußlands bescheiden aus. Nach der Rubelabwertung sind sie von 17 auf 15 Milliarden Dollar geschrumpft. Bill Gates könnte jetzt Rußland cash kaufen. Tatsache ist aber auch, daß Rußland ungeheuer reich an Bodenschätzen ist. Hinzu kommen gewaltige Energie-Ressourcen aus Wasserkraft und anderer Umweltenergie. Die Möglichkeiten der Nutzung des "Humankapitals" sind und bleiben eine Frage der Führung. Der schwerkranke Jelzin ist dafür nicht der richtige Mann. Gorbatschow prophezeite ihm im Jahre 1991: "Am Ende dieses Weges stehen Kollaps und Bürgerkrieg." Der 67jährige Tschernomyrdin wäre in der Lage, diesen Absturz zu verhindern, da nach russischer Tradition die Lebenserfahrung auch etwas mit dem Lebensalter zu tun hat.


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