© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/98 28. August 1998


Pankraz, V. Flusser und die Nation in der Teleproximation  

Ein humorbegabter Berliner Freund schickte Pankraz einige Ausschnitte aus dem PDS-Organ Neues Deutschland in den Urlaub. Es gab da eine "Diskussion", jemand "warf die nationale Frage auf", und ein Chor von Leserbriefschreibern donnerte den Mann unter Aufbietung des bekannten Totschlagvokabulars nieder. "Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft! Es lebe die internationale Solidarität!"

Pankraz an seinen fernen Stränden mußte an ein Gespräch denken, daß er mit dem leider tödlich verunglückten brasilianischen Philosophen Vilém Flusser kurz vor dessen Tod geführt hatte. "Die internationale Solidarität ist out", sagte damals Flusser, "wenn es sie überhaupt je gegeben hat. Dieses abstrakte Menschheitsgequatsche! Wenn einer sagt: ‘Ich liebe die Menschheit’, so sagt er in Wirklichkeit: ‘Ich liebe eine Milliarde Chinesen’. Wo gibt’s denn sowas? Man kann immer nur seinen Nächsten lieben, nicht irgendein Abstraktum."

"Sicher", stimmte Pankraz zu, "wenn ein deutscher Konzern in Indien eine Chipfabrik aufmacht und dadurch bei uns hunderte von Arbeitsplätzen verloren gehen, werden die indischen Arbeiter den Deibel tun und ‘aus internationaler Solidarität’ dem Jobangebot fernbleiben. Jeder ist sich selbst der Nächste."

"Die Menschheits-Rhetorik, die Humanismus-Rhetorik war das Grundübel des Marxismus", fuhr Flusser fort. "Was wir brauchen, ist Proxemik, Nächsten-Rhetorik. Was interessiert, ist das Nächste. Je weiter etwas entfernt ist, um so weniger interessiert es."

"Wie steht es dann aber mit deiner geliebten Telematik?", fragte Pankraz, denn Flusser begehrte ja, ein "Telematiker" zu sein, der das Glück der Welt im Internet aufkeimen sah, dem die Kommunikation via Computer ein und alles war. Der brasilianische Chefdenker mit dem böhmischen Akzent reckte denn auch sofort den Seehundsbart, strich sich über die Glatze und intonierte, gedankenverloren, ein Donnerwort: "Teleproximation!"

 

Schnell kam er in Fahrt und spulte nun sein Leib- und Magenthema herunter: Nächstenliebe per Internet. "Nur mit Teleproximation können wir uns wirklich näher kommen", dozierte er, "der telematische Cyberspace stiftet Interessengemeinschaften, existentiell wertvolle Nachbarschaften in Sekundenschnelle über tausende von Meilen hinweg. Die telematische Distanz schafft geistige Nähe pur, unter Ausschaltung der schwitzenden Körper mit ihren lokalen Hemmschwellen. Man ist einander nah und hält sich den anderen dennoch vom Leibe. Was die Nation nie leisten konnte, das leistet die Telematik: Sie schafft Vertrauen unter den Menschen."

Pankraz kannte die Leier schon von früher und warf höhnisch dazwischen: "Du machst denselben Fehler wie die von dir so gehaßten Humanisten, nimmst ein Abstraktum für den Nächsten. Die Humanisten sagen: ‘Ich liebe die Menschheit, was ich nicht ausstehen kann, sind die Leute’. Und du sagst: ‘Ich liebe die Kommunikationsgemeinschaft, was ich nicht ausstehen kann, sind die Körper.’ Wo ist der Unterschied?"

Natürlich konnte man sich nicht einigen, aber als jetzt Pankraz an fremden Küsten die "Diskussion" im Neuen Deutschland nachlas, kamen ihm die Worte des verewigten Vilém Flusser doch sehr zupaß. Es ließen sich damit einige Einsichten anschärfen, beispielsweise diese, daß die Nation, den ND-Lesern ein solcher Gottseibeiuns, im Grunde der beste Operator zur Herstellung von Nächstenliebe ist, den man sich vorstellen kann, und zwar ihrer vernünftigen Maße wegen.

Sie hockt dem einzelnen nicht so eng auf der Pelle wie der lokale oder regionale Stammtisch, hat nicht so viel "Körpergeruch" (Flusser) wie jener, regt mehr zum Nachdenken und zum genauen Abwägen des Gebotenen an. Andererseits ist sie nicht so abstrakt wie die weltweite "Menschheit" oder das nicht minder weltweite Flussersche Internet. Sie liegt genau in der richtigen Mitte und kann deshalb am besten solche Notwendigkeiten wie Arbeitsplatz, Rechtsstaat und kulturelle Identität garantieren.

 

Wenn wir "weltweite Demokratie" hätten, müßten wir alle Chinesen werden, denn die haben die numerische Mehrheit und würden sich selbstverständlich zunächst einmal selber die Arbeitsplätze zuschanzen, von den Identitäten und Rechstaatlichkeiten zu schweigen. Und auch transnationale, multikulturelle Unionsverbände wie die verflossene UdSSR sind noch zu groß, zu maßlos, zu abstrakt, unterjochen den lebendigen Körper, der nun einmal, inklusive Geruch und psychologischer Hemmschwelle, unabdingbar zum Begriff des Nächsten dazugehört, Vilém Flusser zum Trotz.

Und noch etwas gehört dazu: die Politik in ihrer ursprünglichen Bedeutung als "öffentlicher Raum", auf dem man sich versammelt und sich offen die Meinung sagt. Der kauzige Flusser war nicht nur ein Hypochonder in Bezug auf Körpergeruch, sondern auch in Bezug auf Politik. Er freute sich, daß den Politikern durch das Internet, wie er glaubte, der Garaus gemacht würde.

"Wenn der Politiker", sagte er in jenem Gespräch, "nur noch auf dem Bildschirm erscheint und per Knopfdruck aus dem Blick gebracht werden kann, dann ist er gar kein Politiker mehr, sondern eine private Erscheinung, ein Moment unserer Sofawelt. Und das ist gut so." Aber hier irrte er gründlich.

Denn der Politiker auf dem Bildschirm ist durchaus noch einer, nur eben einer ohne echte Öffentlichkeit, der sich unserem Einspruch und seiner eigenen Verantwortlichkeit weitgehend entzogen hat. Er ist durchaus nicht ohnmächtiger geworden, sondern mächtiger, sofern er es nur geschafft hat, die Kanäle zu okkupieren und sich beliebig ins Bild zu setzen. Er ist nicht mehr unser Nächster, sondern unser Fernster. Und das sollte teleproximativ irgendwie geändert werden, auch ND-Lesern zuliebe.


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