© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/98 28. August 1998


Kino:"Lola rennt" von Tom Tykwer sorgt für ausverkaufte Häuser
Sie ist Heldin, sie ist Kult
von Ellen Kositza 

Daß in einer Großstadt sämtliche Samstagabend-Vorstellungen eines Kinofilms bereits eine Dreiviertelstunde vor Filmbeginn ausverkauft sind, ist selten genug. "Lola rennt" ist ein Massenfilm, und er ist aus dem Stoff, der Propaganda konstituiert. Die Gründe, ihn abzulehnen sind fast ebenso zahlreich wie die, ihn zu lieben. Er ist ein modernes Märchen aus rasend zusammengesetzten visuellen Fragmenten, erfordert keine Konzentration und garantiert dennoch einen Zustand der Dauererregung. Das Konzept des Films steht für Zeitgeist in seiner innovativsten Ausprägung, leicht konsumierbar und dennoch genial.

Der Vorspann ist Zeichentrick: Ein Mädchen rennt. Halb "Tank-Girl", halb Alice im Wunderland, jagt sie durch bewegte, wabernde geometrische Figuren, wird hineingesogen in eine Spirale, rennt und rennt. Schnitt – das Mädchen, Lola, nun höchst real, tätowiert und mit feuerrot gefärbtem Haarschopf, geht ans Telefon. Am anderen Ende der Leitung und von der anderen Hälfte der Leinwand spricht Manni, ihr Freund. "Wo warst du?" fragt er, und Lolas Bericht vom Diebstahl ihres Mopeds wird mittels abgehackt wirkender Filmsequenzen verdeutlicht.

Wo war Manni? Job-bedingt unterwegs, nämlich als Kleingangster im Ausland. Wieder sind es filmische Bruchstücke, diesmal schwarzweiß und im Stil eines alten Depeche-Mode-Videos, denen Mannis erzählende Stimme unterlegt wird. Der Coup war gelungen, 100.000 Mark in einer Tragetasche waren nun von Manni an seinen obskuren Boß zu übergeben. Doch dann – wieder Schnitt – in der U-Bahn, ein Penner stürzt, Manni hilft, Fahrscheinkontrolleure nahen, Schwarzfahrer Manni verläßt reflexartig die Bahn. Schnitt zu Lolas entsetztem Gesicht, das Unglück ahnend, flüsternd: "Die Tasche!" Schnitt, Manni: "Die Tasche!" Wieder Lola, als Nachhall, noch einmal Manni, und dann – Schnitt – der Penner in der U-Bahn: "Die Tasche!" Die Tasche mit dem Geld und der Penner sind verschwunden, und in 20 Minuten trifft Manni seinen Auftraggeber Ronnie. Und der kennt kein Erbarmen.

Einblendung Ronnie: Skinhead, bullig, fies, Eisernes Kreuz am Fingerring: "Der bringt mich um, Lola." 100.000 Mark und 20 Minuten, um das Leben ihres Liebsten zu retten, Lolas Gedanken rasen, wer könnte ihr helfen? Mama? Papa? Oma? Opa? Gesichter flimmern über die Leinwand, im rasenden Wechsel. Papa!, beschließt Lola und rennt los. Das ist der Anfang der Geschichte. Sie macht den Zuschauer nervös und das Urteil sicher: Affektkino, cineastische Spielerei, reine Clipästhetik, MTV-Akrobatik und eine Geschichte von einer zähen Göre (Franka Potente, schon jetzt gefeierter Superstar) und dem armen Manni (Moritz Bleibtreu). Lola und Manni, das tragische Prinzenpaar in einem Popmärchen, dessen Strukturen festgelegt sind. Mithin kann Produzent Stefan Arndt befriedigt festellen, "Lola rennt" sei eine "Zusammenfassung der Wunder, die hundert Jahre Filmgeschichte entwickelt haben. Alles, was an filmischen Mitteln möglich ist, wird aufs Schönste verwendet."

Doch so simpel und rein auf technikgesteuerter Effekthascherei aufbauend ist Lolas Sprint schließlich doch nicht. "Jeden Tag, jede Sekunde triffst Du eine Entscheidung, die Dein Leben verändern kann!", das ist die auf dem Filmplakat etwas simplifizierte Botschaft, die die Geschichte so eigenwillig werden läßt. Denn Lola spurtet gleich dreimal los, und in diesen drei Versionen ist immer nur das angestrebte Ziel das gleiche: Sie braucht das Geld, um Mannis Leben zu retten. Identisch bleibt weiterhin Lola selbst, wie auch die anderen Personen in ihrer Art und Weise des Handelns festgelegt sind. Entscheidend für den unterschiedlichen Fortgang des Geschehens sind Nebensächlichkeiten, das Auto, das einmal die Straße kreuzt und bei der nächsten Variante nicht, der Penner, der einmal ein Fahrrad erwirbt und einmal nicht, und es ist der Unterschied von Sekundenbruchteilen, in denen einmal ein Entschluß gefaßt und ein anderes Mal wieder fallengelassen wird. In jeder Minute entscheidet eine eigentlich banale Handlung oder deren Unterlassung über den Fortgang der Dinge.

So umkreist Tom Tykwer, nach Wim Wenders’ Urteil der Regisseur der Zukunft, das Thema "Schicksal". "Unsere Zeit ist nicht von Idealen beherrscht", erklärt Tykwer das Grundmuster des Films, "heute lebt man eher situativ." Dem trägt zum einen die Geschichte an sich Rechnung, zum anderen wird ihre Gestaltung mittels schneller Schnitte, unterlegt von pulsierendem Techno, dem Publikumsgeschmack gerecht. Lola kennt weder Moral noch Weltanschauung, sie besitzt nicht einmal ein stringentes Konzept. Sie handelt instinktiv, und das von Variante zu Variante in zunehmendem Maße. In der letzten Version mutiert sie gar vom impulsivem Powergirl zur Hexe mit magischen Kräften, ohne daß daraus ein Hollywood-Zauber entstünde. Eines ihrer persönlichen Kennzeichen ist es nämlich, in Ausnahmesituationen, bei enormem Ärger oder Angst, schrill zu schreien, so gellend, daß Glas zerspringt. Das ist keine Anlehnung an den kleinen Oskar aus der "Blechtrommel", es kennzeichnet eine spezifisch weibliche Art der Kräftebündelung. Was in der ersten Version noch als Ausdruck ohnmächtiger Hysterie erscheint, erfüllt Lola in der zweiten Version bereits mit vitaler Aktivität, während ihr Schreien in der dritten Variante zu einer eigentümlichen, immateriellen Energie transzendiert. Lola, die schöne, wilde und siegreiche Kämpferin. Allerspätestens hier hat Tykwer es gepackt, mit seinen Affekten.

Einige Konstanten kehren in jeder der Variationen wieder, auch dies wird nicht bedeutungsschwer hervorgehoben, prägt jedoch den Inhalt. Eine davon ist Lolas Vaterlosigkeit, nur einmal biologisch, jedoch immer in ihrer psychologischen Wirkung zum Ausdruck gebracht. Denn gerade, als Lola das Zimmer ihres Vaters (Filialleiter einer großen Bank) stürmt, hat ihm seine Geliebte (Nina Petri, "Das ist Frau Hansen vom Vorstand") soeben eröffnet, daß sie ein Kind erwartet. Lolas Vater wird seine Familie verlassen. "Es gibt keine Intensität zwischen den Generationen", formuliert der Regisseur und nimmt dies so in seinen Film auf, ohne explizit und angestrengt gesellschaftliche Zustände zu reflektieren. Tykwers Ausgangspunkt für diesen Film war eine wesentlich ästhetische Vision: Ein Mädchen im Profil, rennend. Leidenschaft und Dynamik. Daß er nicht Soziologe ist, sondern Augenmensch, ist unverkennbar. Die Geschichte ist eben Kino und kein Roman. Und Lola ist "nur eine von vielen", aber sie ist eine Heldin, sie ist Kult.


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