© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/98 04. September 1998

 
Wahl ’98: Jungwähler lassen sich nicht mehr traditionell binden – und wollen radikal wählen
Die Auflösung der Milieus
von Dieter Stein

Vier Wochen vor der Bundestagswahl ist es so offen wie bei kaum einer Wahl zuvor, wie die Mehrheitsverhältnisse im künftigen Berliner Parlament aussehen werden. Zu erwarten ist, daß die Union Einbußen gegenüber der letzten Wahl erleiden wird. Sicher ist, daß die SPD zulegt. Mehr aber auch nicht.

Regierungsparteien und Opposition suchen die Entscheidung in der Mitte, der "neuen Mitte", wie Gerhard Schröder proklamiert hat. Doch es ist fraglich, ob auch die Anhänger diesem Zug zur "Mitte" so einfach folgen. Sehr stark wird der Erfolg der großen Parteien davon abhängen, ob es ihnen gelingt, ihre eigene, traditionelle Anhängerschaft zu mobilisieren.

Die Regierungsparteien stehen vor dem Problem, daß ein halbes Dutzend konservativer oder rechter Protestparteien sie entscheidende Prozente kosten können. Die FDP dürfte unter dem Antritt der eurokritischen rechtsliberalen Listen BFB und Pro D-Mark leiden, die Union unter Republikanern und DVU. Dennoch wirkt sich der "Rechtsruck" unter enttäuschten Wählern nicht etwa in erster Linie auf die bürgerlichen Regierungsparteien aus – sondern wahrscheinlich stärker auf die SPD!

Beunruhigen muß die Genossen eine im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks in Auftrag gegebene und vergangene Woche veröffentlichte Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Infratest dimap. Für diese repräsentative Umfrage wurden zwischen dem 30. April und 4. August etwa 5.200 Wahlberechtigte befragt. Nach dieser Umfrage ist das Potential rechter Parteien (Republikaner, DVU, NPD) unter Gewerkschaftsmitgliedern überdurchschnittlich höher als unter Nicht-
mitgliedern.

Infratest dimap ermittelte in einer Wahltagsbefragung bei 8.480 Befragten, daß in Sachsen-Anhalt von den 18- bis 24jährigen Gewerkschaftsmitgliedern 35 Prozent die DVU, von den Nicht-Mitgliedern dieser Altersgruppe 27 Prozent "rechts" wählten.

Die Frage der jüngsten deutschlandweiten Umfrage, "Könnten Sie sich prinzipiell vorstellen, bei der Bundestagswahl im September die Republikaner oder die DVU zu wählen?", bejahten acht Prozent aller befragten Wahlberechtigten. Unter Gewerkschaftsmitgliedern waren es elf Prozent. In der Altersgruppe der 18-24jährigen Wahlberechtigten bejahten 17 Prozent diese Frage, erwägen also oder planen, rechts zu wählen. Jedoch wollen 32 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder zwischen 18 und 24 am 27. September in Deutschland vermutlich rechts wählen oder sind dazu fest entschlossen.

Die Meinungsforscher stellen fest: "Insgesamt gesehen ist die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft keine Barriere (mehr) für die Wahl einer rechtsradikalen Partei. Sie ist im Gegenteil derzeit eher förderlich für die Bereitschaft, rechtsradikal zu wählen. Insbesondere viele junge und arbeitslose Gewerkschaftsmitglieder sind geneigt, einer rechtsradikalen Partei ihre Stimme zu geben."

Ein Erfolg von Rechtsparteien bei der Bundestagswahl wird deshalb keineswegs zuerst die Unionsparteien schwächen, sondern stärker noch die Sozialdemokraten, die in ihrer Kernanhängerschaft, den Gewerkschaftern, den Arbeitern, Wähler in wahlentscheidender Zahl verlieren. Und es wird fraglich, ob Schröder dies durch Mittelständler, Beamte und Angestellte aus der Anhängerschaft der Unions-Parteien kompensieren kann.

Insbesondere Jungwähler (und hier die Gewerkschaftsmitglieder und Arbeiter) bringen den etablierten Parteien wenig Vertrauen entgegen, zentrale politische Probleme (Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland, Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen und Bekämpfung von Kriminalität und Verbrechen) zu lösen. DGB-Chef Dieter Schulte bezeichnet die Umfragezahlen als "sehr bedenkenswert" und "schlimm". SPD-Sozialexperte Rudolf Dreßler äußerte in einer ersten Reaktion, "nicht jeder, der rechtsextreme Ansichten äußert, ist rechtsextrem."

Die Meinungsforscher von Forsa ermittelten im Auftrag der Woche in einer Anfang August unter 1006 Wahlberechtigten durchgeführten repräsentativen Umfrage ein rechtes Wählerpotential von insgesamt 10 Prozent, bei unter 30jährigen von 13 %. Den höchsten Grad der Zustimmung ermittelte Forsa wieder mit 15 % unter Arbeitern.

Bislang sind die Signale in Bonn nicht verstanden worden. 36 Prozent der von Forsa befragten Bürger erwarten aber, daß die etablierten Parteien "sich mehr um die Probleme kümmern würden, wenn eine Rechtspartei im Bundestag wäre."


 
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