© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/98 04. September 1998

 
Kolumne
Mutationen
von Ulrich Schacht

Vor über einem Jahrzehnt registrierte der deutsche Soziologe Ralf Dahrendorf eine starke sozialpolitische Angleichungstendenz, was den Charakter der deutschen und westeuropäischen Volksparteien betraf. Den Prozeß deutete er als Etablierung des sozialdemokratischen Zeitalters. Mit anderen Worten: Auch bislang eher konservative Parteien wurden in ihrer Programmatik, Sprache und Politik eher sozialdemokratisch argumentierende und handelnde Organisationen. Der Befund brachte einige Chefideologen zwar auf die Palme; sie beharrten auf der prinzipiellen Differenz, auf spezifischer Identität. Ungeachtet dessen aber war und blieb Dahrendorfs Analyse , vor allem auf Deutschland bezogen, richtig: die Unterschiede zwischen CDU und SPD waren bis vor kurzem allenfalls mit der Lupe zu erkennen. Bundestagsdebatten näherten sich in der jüngsten Vergangenheit bedenklich oft jenem stromlinienförmigen Formal-Pluralismus, den die selige Volkskammer made in GDR vier Jahrzehnte lang als höhere Stufe des Parlamentarismus zu verkaufen suchte. Die Maastricht-Debatte war in diesem Zusammenhang das Schwärzeste, was sich der bundesdeutsche Nachkriegsvolksvertreter geleistet hat.

So weit, so schlecht, oder besser und mit der Ironie eines Walter Kempowski: "Out, out und vorbei!" Denn die deutsche Sozialdemokratie ihrerseits ist gerade dabei – zumindest im Führungsteam um Schröder – jenes formalprogressistische sozialdemokratische Zeitalter mit seinen täterfreundlichen Justizmärchen, seinem finanzpolitischen Schuldenparadies, seiner bildungspolitischen Nivellierungsidiotie, dem postnationalen Weltbeglückungsgetue und der spätutopistischen Europabesoffenheit abzuläuten. Sie wird konservativ oder gibt sich so und ist damit gar nicht so weit von einigen Perioden ihrer Parteigeschichte entfernt. Fast könnte man meinen, sie kommt wieder zu sich. Und was macht die jahrzehntelang ideologisch hinterherhechelnde Partei der Süssmuth, Kohl und Geißler, von notorischen Politblindfliegern und feigen Zweckoptimisten immer noch mit der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands verwechselt? Sie treibt, trotz aller konservativen Wahlkampf-Rhetorik, ihren Opportunismus gegenüber dem Zeitgeist auf die Spitze, indem sie sich als neue Partei gründet, vorstellt, anpreist – und lächerlich macht. Das ist keine Unterstellung, sondern eine Tatsache, der man gerade in Berlin begegnen kann: hier wirbt diese neue CDU auf Wahlplakaten mit dem Namen Couragiert-Direkte Unerschrockenheits-Partei. Nun gut, nicht ganz so, wie es hier behauptet wird. Vielmehr so: Couragiert Direkt Unerschrocken. Dazu ein Foto, ein Name. Und fertig ist das Nichts aus dem Zeitgeistreich der Polit-Mumien, -Monster und -Mutationen.


 
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