© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/98 04. September 1998

 
Politik: Joachim Siegerist, der Ministerpräsident in Lettland werden möchte, über Probleme und Hoffnungen im Baltikum und über die Konservativen in Deutschland
"Kohl ist zum Wegbereiter der Radikalen geworden"
von Dieter Stein

Herr Siegerist, was sind Ihre Motive, sich in Lettland politisch zu engagieren?

SIEGERIST: Meine Familie väterlicherseits stammt aus Lettland. Es war der letzte Wunsch meines Vaters, daß ich nach der Befreiung Lettlands zurückkehre an unsere Wurzeln. Außerdem bin ich ein erklärter Gegner des Kommunismus. Deswegen war für mich selbstverständlich, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Lettland zu gehen, um dort zu verhindern, daß der Kommunismus neu aufleben kann. Auch glaube ich, daß ich in diesem Land meine politischen Ideale verwirklichen kann: Glaube, Liebe, Hoffnung, Freiheit, Vaterland.

Welche Widerstände müssen Sie überwinden?

SIEGERIST: In Lettland gibt es die schlimmste Hinterlassenschaft des Kommunismus: den homo sovieticus. Bei vielen Menschen sind die Herzen zu Stein geworden, die Seelen zu Wüsten, die Hirne sind eingetrocknet, Phantasie wurde vergessen, weil sie verboten war. Kriminelle gehen in die Politik, um reich zu werden, nicht um die Nation voranzubringen. Korruption ist nicht anstößig, weil sie ein Teil des Überlebenskampfes war. Bevor man das Denken der Menschen nicht geändert hat, wird man auch die wirtschaflichen Verhältnisse nicht ändern können. Doch hinter den politischen Parteien stehen die großen Banken, die meist unter russischem Einfluß sind. Dazu kommt die sehr mächtige russische und lettische Ölmafia.

Nur 55 Prozent der in Lettland lebenden Menschen sind Letten. Wie funktioniert das Zusammenleben mit den Russen in Lettland und mit dem Nachbarn Rußland?

SIEGERIST: Man sucht sich seinen Nachbarn nicht aus. Rußland ist der gewaltige Nachbar des kleinen Lettland. Also gibt es auch keine Alternative zu einem friedlichen Zusammenleben zwischen Letten und Russen in Lettland. Die lettische Hauptstadt Riga hat nur 30 Prozent lettische, aber 70 Prozent russische, weißrussische, ukrainische und andere Einwohner. Das frühere Dünaburg, heute Daugavpils, hat nur noch elf Prozent lettische Einwohner. Trotzdem gibt es in Lettland keine Auseinandersetzungen. Die beiden Nationalitäten leben in Frieden miteinander, gehen sich aber meistens aus dem Wege. Und es gibt viele Russen, die kein Interesse daran haben, die lettische Staatsbürgerschaft zu übernehmen. Sie könnten dann nicht mehr visafrei nach Rußland reisen, um Geschäfte abzuwickeln. Ich glaube aber nicht, daß man daran vorbeikommt, denjenigen Russen, die in Lettland leben, die die lettische Sprache lernen möchten, früher oder später auch die lettische Staatsbürgerschaft zu geben.

Von den in Lettland lebenden Russen haben also nur wenige die lettische Staatsbürgerschaft?

SIEGERIST: Von den 46 Prozent ist es nur ein Bruchteil. Sie haben kein Wahlrecht. Stellen Sie sich die Situation vor: in München, Hamburg oder Berlin hätten wir 70 Prozent türkische Bevölkerung. Würden wir es akzeptieren, daß diese Städte einen Türken als Bürgermeister bekommen? Ich glaube nein. Aber genau das verlangt der Westen von Lettland.

Werden die lettischen Administrationen von den Russen akzeptiert?

SIEGERIST: Die Letten haben die Russen nicht nach Lettland geholt. Sie sind entweder von Stalin in das Land gebracht worden, um das Land zu russifizieren, oder sind nach dem Zerfall der Sowjetunion zu ihren hier lebenden Familien nachgezogen. Die Verhältnisse in Lettland sind immer noch viel besser als in Rußland. Und viele Russen, die in Lettland leben, warten immer noch auf die Errichtung des russischen Weltreiches. Etwa 50 Prozent der lettischen Nation wurde von den Kommunisten deportiert, vertrieben oder umgebracht. Die lettische Sprache war verpönt, teilweise sogar verboten. Daß es heute einen Widerstand der Letten gibt, alle hier lebenden Russen mit wehenden Fahnen zu übernehmen, ist doch nur logisch.

Wie ist die wirtschaftliche Lage in Lettland?

SIEGERIST: Zehn Prozent der Menschen geht es – auch nach deutschen Maßstäben – gut. 90 Prozent geht es nicht sehr gut. Ich glaube aber, daß man in weniger als zehn Jahren wirtschaftliche Verhältnisse schaffen kann, die denen in Portugal ähnlich sind. Das hört sich in Deutschland nicht besonders groß an, in Lettland wäre es aber ungeheuer viel. Ein lettischer Rentner hat umgerechnet 140 Mark im Monat, in Portugal sind es etwa 450 Mark. Die Perspektive in Lettland ist nicht schlecht. Es könnte eine hervorragende Holzindustrie geben, es könnte ein sehr gutes Transitgeschäft und ein sehr gutes Bankgeschäft geben. Lettland hat ja die stabilste Währung im gesamten Ostblock. Ein LAT sind fast drei Mark. Aber es wird auch vieles verhindert durch Westeuropa. Die Schweden etwa haben kein Interesse daran, daß Lettland ein konkurrierender Holzmarkt wird, die Norweger haben kein Interesse daran, einen Konkurrenten in der Fischerei zu bekommen. Westliche Länder haben mit dazu beigetragen, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse in Lettland so schlecht sind. Sie betrachten das Baltikum nur als Absatzmarkt für ihre eigenen Produkte, räumen aber den baltischen Produkten keine Chance auf dem westlichen Markt ein. Ich sehe die wirtschaftliche Lage nicht hoffnungslos. Produkte aus dem "goldenen Baltikum" sind sehr gut.

In lettischen Läden kann man deutschen Joghurt kaufen, obwohl Lettland ein landwirtschaftliche geprägtes Land ist…

SIEGERIST: …der erste Grund dafür ist, daß die Menschen in den ersten Jahren nach der kommunistischen Planwirtschaft westliche Produkte kaufen: sie glauben anfangs, alle Produkte, die aus dem Westen kommen, seien gut. Aber es gibt ein schwerwiegenderes Argument: es werden zu Dumpingpreisen westliche Fleisch-, Milch- und Butterüberschüsse an die lettische Grenze gebracht. Wenn etwa hundert Tonnen dänische, deutsche, holländische Hähnchen nach Lettland kommen zu Preisen, die unter den Erzeugerpreisen im Westen liegen, wenn diese dann als 30 Tonnen deklariert werden und durch Bestechung ins Land kommen, dann kommt es zu der Situation, daß die westlichen Produkte auf dem lettischen Markt billiger sind als die einheimischen Produkte.

Würde die Aufnahme Lettlands in die EU die Situation bessern?

SIEGERIST: Ich bin kein Europa-Fanatiker. Ich bin der Meinung, daß die Letten zunächst ihre eigene Identität finden müssen. Ich bin dagegen, daß man aus der sowjetischen Gefangenschaft unmittelbar in die europäische Bevormundung geht. Die einzigen Vorschläge, die wir bisher aus Europa bekommen haben, sind die, daß 130.000 lettische Bauern um ihre Existenz gebracht werden sollen, weil sie weniger als 50 Hektar Land besitzen. Diese Bauern sollen in irgendwelchen Firmen aufgehen. Das halte ich für einen Wahnsinn. Der Westen versteht nicht viel vom Osten. Ein Paradebeispiel: Kohl und sein logisch nicht mehr zu verstehendes Verhältnis zu Rußland; deutsches Schuldgefühl vernebelt den Verstand.

Welche wirtschaftliche Vorstellungen haben Sie?

SIEGERIST: Es gibt mehrere Wege: Der eine ist, daß man in Lettland nackten Kapitalismus anstrebt, wie wir ihn aus Singapur kennen, oder es könnte eine politische Renaissance der Kommunisten geben, die die alte Planwirtschaft erträumen. Es gibt den Weg, den ich für richtig halte: die soziale Marktwirtschaft. Interessant ist, daß die Kommunisten und die nackten Kapitalisten beispielsweise die fast gleichlautende These vertreten, nur gigantische Betriebe hätten die Chance zu überleben. Ich sehe das anders. Ein kleines Land hat nur dann eine wirtschaftliche Chance, wenn man die kleinen und mittleren Wirtschaftseinheiten fördert. Lettland ist überwiegend ein Agrarland. Man muß zunächst den kleinen Landwirten bezahlbare Kredite gewähren, damit die Eigenversorgung gewährleistet wird. Dann kommt der Export, aber das ist erste die zweite Stufe. Zunächst muß man verhindern, daß der eigene Markt kaputtgemacht wird. Man muß kleine handwerkliche Betriebe wie Holz- und Papierindustrie mit Start-Subventionen fördern. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Schwedische Firmen kaufen das hochwertige lettische Rohholz auf, verarbeiten es in Schweden zu Papierbrei und verkaufen es als Papier auch an Lettland zurück. Das ist eine Idiotie. Man könnte in Lettland eine Papierindustrie klein- und mittelständisch aufbauen, die dann eine Konkurrenz zu Schweden werden könnte.

Wie wollen Sie Investitoren gewinnen?

SIEGERIST: Erstens durch attraktive Steuergesetzgebung. Zweitens durch Klärung der Eigentumsfrage; Ausländer müssen im ganzen Land das Recht auf Eigentum haben. Drittens: massive Bekämpfung der Korruption. Lettland statt Rußland und Südostasien – das werde ich als Ministerpräsident begründen.

Funktioniert die Demokratie in Lettland?

SIEGERIST: Ich glaube, daß die Wahlen in Lettland im Prinzip nicht manipuliert werden. Ich will nicht reden von der Ausnutzung der Medien durch die Regierenden, das ist ein anderes Thema. Aber die Wahlen sind frei, geheim, nachprüfbar. Die negative Seite ist, daß es in Lettland keine demokratische Kultur, auch keine Oppositionskultur gibt. Der jeweils Regierende betrachtet den Staat als Beute zur persönlichen Bereicherung. Von 100 Abgeordneten haben 36 in drei Jahren die Partei gewechselt, haben sich verkauft. Auch die Entwicklung eines demokratischen Rechtsstaates steckt in den Kinderschuhen.

Sie sind in Deutschland bekannt als "Rechter". In Lettland aber gelten Sie als Linker?

SIEGERIST: Wir machen es uns in Deutschland sehr leicht, da wird alles in irgendwelche Schubladen gesteckt. In Lettland glauben die Menschen nach der kommunistischen Indoktrination, wer für die armen Menschen etwas macht, der muß ein Linker sein. Man kann sich nicht vorstellen, daß ein Konservativer oder Rechter auch sozial denken kann. Deshalb gelte ich in Lettland als Linker. Es kommt hinzu, daß etwa die sozialistische Partei Lettlands in meinem Wahlkreis auf die Aufstellung eigener Kandidaten verzichtet und ihren Wählern die Empfehlung geben hat, Siegerist zu wählen, weil der sozialistische Dinge verwirklichen möchte. Die Leute sehen das dort so. Und in Deutschland ist es ganz simpel: Die Linken beherrschen die Medien, die CDU ist nach links gerückt, das ganze Parteienspektrum und politische Koordinatensystem hat sich verschoben. Und deshalb gelte ich in Deutschland als Rechter, obwohl ich meine Positionen seit früher Jugend nicht verändert habe.

Wie sind Ihre konkreten Forderungen, die Sie in Lettland als Linker erscheinen lassen?

SIEGERIST: Wer ist Lettland gegen die Politmafia ist, gilt als links. Wer in Lettland nicht in die eigene Tasche arbeitet, gilt als links. Wer für die armen Menschen etwas macht, wer als Politiker nicht mindestens mit einem Mercedes 600 durch die Straßen fährt, sondern mit einem alten klapprigen Jeep wie ich, der gilt als links. Das ist eine andere Welt. Aber es gibt auch inhaltliche Interessenkonflikte zu dem, was als rechts gilt. Ich bin der Meinung, daß wir in Lettland etwas brauchen wie ein Betriebsverfassungsgesetz. Die früheren kommunistischen Funktionäre sind heute die Blutsauger-Kapitalisten. Ich vertrete die These, daß jeder Betrieb mit mindestens 50 Angestellten einen Invaliden beschäftigen muß. Ich fordere einen Mindestlohn, fordere, daß die Alten eine Rente bekommen müssen, die sie abhebt vom Bettlerleben. Ich will, daß Politiker, die dem Staat Millionenbeträge gestohlen haben, vor Gericht kommen. Das hat mit links nichts zu tun, sondern sind Grundideen der christlichen Soziallehre, durch die ich zutiefst geprägt bin. Ich bin christlich-sozial-konservativ, nichts anderes.

Wie stehen Sie zur NATO-Osterweiterung?

SIEGERIST: Der Westen hat kein echtes Interesse, Lettland in die NATO aufzunehmen. Es gibt längst eine Wiederbelebung des Molotow-Ribbentrop-Paktes. Kohl ist ja notorisch verliebt in den charakterlosen, verlogenen und unzurechnungsfähigen Alkoholikers Jelzin, und er würde nichts machen zugunsten des Baltikums ohne Jelzins Zustimmung. Man würde im Westen nicht einen einzigen Pistolenschuß abgeben für die Freiheit Lettlands. Ich glaube nicht an eine Mitgliedschaft in der NATO in den nächsten fünfzehn Jahren. Lettland bekommt seine Sicherheit nur dadurch, daß es ein gesundes Verhältnis entwickelt zu Rußland und nicht zu einem einzigen Mann, wie Kohl das macht. Wir brauchen eine Armee, die einem Igel gleicht: klein, sympathisch, aber stachelnd. Davon kann noch keine Rede sein. Lettland muß mit der Realität leben, vom Westen vorläufig nicht gewollt zu sein. Seine größte Chance ist, wieder eine Brückenfunktion einzunehmen: Berlin – Warschau – Königsberg – Riga – St. Petersburg – Moskau. Ich glaube an die Wiederbelebung dieser Achse. Hoffnungsvoll stimmt mich, daß wir gute politische Partner in Rußland haben: die Jawlinski-Partei. Diese Leute denken in allen wichtigen Fragen ähnlich wie ich. Im Westen gilt Jawlinski als der große Demokrat – und ich gelte als Rechtsradikaler. Das zeigt auch die Unkenntnis der westlichen Journaille.

Es ist neuerdings viel von Sextourismus ins Baltikum die Rede. Wie groß ist das Problem?

SIEGERIST: Es ist eine wirtschaftliche Frage. Man hat kürzlich in Lettland junge Mädchen nach ihrem Lieblingsberuf gefragt, und mehr als 70 Prozent haben gesagt, sie würden am liebsten Prostituierte sein, weil man dann gut leben, gut essen, sich gut kleiden kann. Die Prostitution hat in Lettland Verhältnisse angenommen, die denen in Thailand ähnlich sind. Bekämpfen kann man dieses Problem nur dadurch, daß man das wirtschaftliche Leben verbessert und den jungen Menschen wieder moralische Maßstäbe gibt. Es werden in Lettland mehr Särge als Wiegen gebaut. Im vergangenen Jahr haben sich mehr als eintausend alte Menschen aus Verzweiflung das Leben genommen.

Rußland wie auch Lettland erleben eine Verwestlichung, eine kulturelle Überfremdung im Eiltempo. Gibt es dagegen Widerstand?

SIEGERIST: In Lettland wird das nicht so problematisch gesehen wie von einigen in Rußland: von dem überzeugten Großrussen Solschenizyn etwa, der es sich aber zu leicht macht, wenn er die Schuld nur auf den Westen schiebt. Es gibt in Lettland – wie bei vielen anderen kleinen Völkern – ein gesundes Nationalbewußtsein. Kleine Völker können nur so überleben. Das sehen Sie an lettischen Volksliedern, Volkstrachten und Bräuchen. Das größte Fest ist die Sonnenwendfeier am 23. Juni. Das zählt mehr als bei uns das Weihnachtsfest: da kommt die ganze Nation zusammen und feiert. Es gibt einen ungeheuren Nachholbedarf an lettischer Kultur. Wer in der Sowjetzeit die alte lettische Nationalfahne aufbewahrte, riskierte mehr als zehn Jahre Lager oder Gefängnis. Trotzdem hat man es gemacht. Es gibt aber auch, was ich für gefährlich halte, ein übersteigertes nationalistisches Gefühl ohne Gehirn.

Wie gehen die Letten damit um, daß ein Deutscher das Amt des Ministerpräsidenten anstrebt?

SIEGERIST: Die Menschen vertrauen mir. Wir haben 65 Kandidaten: alle Wahlkreise sind besetzt. Von den Kandidaten haben 57 Hochschulabschluß. Das spiegelt die Zusammensetzung der Partei wider. Wir sind also keine bloße Protestpartei, wie es im Westen gern heißt. Bei den Wahlen steht vor allem die ländliche Bevölkerung auf unserer Seite, wir haben 1994 zwei Drittel aller ländlichen Wahlkreise für uns erobern können. Probleme haben wir in dem sehr russisch geprägten Riga, wo wir "nur" elf Prozent bekommen haben. Schwierig ist die Lage möglicher Koalitionspartner. Da kann man keine deutschen Maßstäbe anlegen. Es gibt viele Sozialisten, die gern mit uns koalieren möchten. Es gibt eine Annäherung an die liberale Partei "Lettischer Weg", die ich im letzten Wahlkampf noch bekämpft habe. Ich hoffe, daß wir aus eigener Kraft die Mehrheit stellen.

Deutsche Politiker mischen sich gern in die baltische Politik mit Ratschlägen ein. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?

SIEGERIST: Ganz verrückte Formen nimmt das an. Es hat beispielsweise ein maßgeblicher Vertreter der deutschen Botschaft in Riga vor den deutsch-lettischen Kulturvereinen vor laufender Kamera gesagt, erst wenn diese Vereine ihre Zusammenarbeit mit Siegerist einstellen, könnten sie auf finanzielle Hilfe aus Deutschland hoffen. Kanzler Kohl hat in der Zeit der letzten Regierungsbildung zum Staatspräsidenten gesagt, Lettland würde wieder Kredite bekommen aus Deutschland, wenn Siegerist nicht in die Koalition und nicht in die Regierung aufgenommen wird. Ich war vorgesehen als Wirtschaftsminister und stellvertetender Ministerpräsident. Frau Süssmuth, die schleswig-holsteinische Landtagspräsidentin von der SPD, auch zwei CDU-Abgeordnete, Graff Lambsdorff und Dutzende andere haben in Riga meinetwegen interveniert. Aber ich kann damit gut leben, weil es mich von dem Vorwurf befreit, ich würde die deutsche Karte spielen. Einmischung von außen hilft mir eher.

Warum sind Sie den deutschen Politikern ein Dorn im Auge?

SIEGERIST: Man hat wohl in Bonn Angst, ein lettischer Ministerpräsidenten Siegerist könnte das europäische Spiel ein klein wenig durcheinanderbringen. Vor allem: Es wird befürchtet, daß ich das Amt auch in Deutschland zur Veränderung der parteipolitischen Landschaft mißbrauchen könnte. Es war eine verrückte Situation in Lettland, als ich 1994, nach meinem Wahlsieg, in die Französische Botschaft gebeten wurde: fast alle Botschafter waren anwesend, um mich zu ermahnen, ja die europäische Karte zu spielen. Nur der stellvertretende englische Außenminister hat sich demonstrativ auf meine Seite gestellt – und auch die israelische Botschafterin. Das mag aber auch daran liegen, daß der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Riga, Michael Arons, meiner Partei angehört.

Sie sind weiterhin in Deutschland politisch aktiv über den Verein "Die Deutschen Konservativen". Gegenwärtig führen Sie eine Anzeigenkampagne mit dem CDU-Bundestagsabgeordneten Heinrich Lummer gegen Schröder. Ist das eine Kampagne für die CDU?

SIEGERIST: Ich kann nicht sagen, daß ich Kohl liebe, aber er ist mir hundertmal lieber als das Chamäleon Schröder, der seine politische Meinung häufiger gewechselt hat als ein Wetterhahn seine Richtung in einem Tornado. Für mich sind Schröder als Bundeskanzler, der Schuldenmacher Lafontaine als Wirtschaftsminister, der frühere Straßenkämpfer Fischer als Außenminister, der frühere Terroristenanwalt Schily als Innenminister oder der Alt-Kommunist Trittin als Bundesminister Horrorvorstellungen. Heinrich Lummer sieht die Kampagne sicher mehr als Wahlempfehlung für die CDU. Ich sehe sie mehr als Stärkung der Deutschen Konservativen. Aber das ist ja eine gute Kombination.

Sie sind ein scharfer Kritiker der heutigen ‘linken’ Union? Welche Rolle spielt Kohl für die politische Entwicklung der CDU?

SIEGERIST: Ich kann mehrere Dinge an Kohl nicht begreifen: erstens die Abschaffung der D-Mark zugunsten einer Monopoly-Währung. Zweitens hat er zu einer Zeit, als die Deutschen 1990 opferbereit waren, keine Opfer eingefordert und den Menschen ein deutsches Schlaraffenland vorgegaukelt. Damit ist er letztlich verantwortlich für die jetzigen politischen Verhältnisse; er ist zum Wegbereiter von PDS und der DVU geworden. Er ist mitverantwortlich für das Abrutschen Deutschlands nach links.

Bereuen Sie, daß Sie sich in vielen Wahlkämpfen für die CDU eingesetzt haben?

SIEGERIST: Ich war jung, idealistisch, unerfahren, aber damals war die CDU eine andere Partei. Ich würde jederzeit wieder Wahlkampf machen für Leute wie Barschel, Strauß, Dregger, Wallmann, Filbinger, auch den hoch-anständigen Schwarz-Schilling. Aber ich ärgere mich darüber, daß ich für Richard von Weizsäcker die Wahlkampfzeitung geschrieben habe, als er in Berlin für den Posten des Regierenden Oberbürgermeisters kandidiert hat. Heute versucht die Union die Anpassung an den linken Zeitgeist, will die SPD links überholen, um an neue Wähler zu kommen. Es ist ein Irrglaube der Union, daß die bürgerlichen rechten Wähler sowieso auf Ewigkeit der Union verbunden bleiben. Es gibt keine Grundüberzeugungen mehr bei der CDU. Man denkt nur an den nächsten Wahlkampf.

Wie sehen Sie die Zukunft des rechten Lagers?

SIEGERIST: Meine Wunschvorstellung war die Wiederbelebung der Deutschen Partei, wie sie früher existiert hat unter meinem verstorbenen väterlichen Freund und Förderer Heinrich Hellwege. Ich glaube, daß die Zeit der Republikaner vorbei ist, daß der Bund Freier Bürger bei der nächsten Bundestagswahl nicht über 1,5 Prozent der Stimmen kommen und daß leider Freys DVU entweder dicht an die fünf Prozent oder darüber hinaus kommen wird . Aber Frey ist ein Mann, dem anständige Konservative ihre Stimme nicht geben können. Nur der CSU in Bayern. Die Konservativen sind gegenwärtig in der unglücklichen Lage, daß sie in der CDU keine politische Heimat mehr haben und daß es keine erfolgsversprechende Partei gibt, der sie ihre Stimme geben können. Das kann kein Dauerzustand bleiben. Aber der Wähler denkt eben viel holzschnittartiger als etwa der eigentlich sensible Rolf Schlierer aus Stuttgart, den ich sehr schätze. Er hat nicht die Hemmungslosigkeit, die Frey hat. Die National-Zeitung ekelt mich, wenn ich sie lese, die Parolen der DVU stoßen mich ab, wenn ich sie höre. Freys Wahlerfolge werden nicht in erster Linie zu Lasten der CDU gehen, sondern zu Lasten der Linken. Entscheidend ist, daß die CDU einen kardinalen Fehler gemacht hat: Sie hat zugesehen, wie die linksradikalen Kräfte enttabuisiert und wie die Rechts-Konservativen tabuisiert worden sind. 20 Prozent der früheren Klientel sind nicht mehr für die Union ansprechbar. Wenn schon Tabuisierung, dann aber doch selber rechte Politik machen.

Woher kommt Ihr Antikommunismus?

SIEGERIST: Der Kommunismus ist eine satanische Idee. Der zweite Grund ist das Schicksal meiner Familie, die unter Stalin nach Sibirien deportiert und größtenteils vernichtet wurde. Der dritte Grund: Als sechzehnjähriger Schriftsetzerlehrling in Bremen habe ich die Toleranz der Linken am eigenen Leibe gespürt. Weil ich mich weigerte, der kommunistischen IG Druck und Papier beizutreten und Mitglied im christlichen Gewerkschaftsbund wurde. Viertens, ich fuhr als Siebzehnjähriger das erste Mal in die sogenannte DDR und habe mit eigenen Augen das wahre Antlitz des Sozialismus gesehen.


 
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