© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/98 11. September 1998

 
Wesensverwandtschaft: Friedrich Georg Jünger und sein Bruder Ernst
Prometheisch und skeptisch
von Stefan Hanz

Friedrich Georg Jünger, dessen hundertsten Geburtstag wir dieser Tage gedenken, entwand sich der Anmaßung dieses Zugriffs, indem er dessen Absurdität veranschaulicht und uns gleichzeitig in eine Welt der Fülle entführt hat, die wir nur noch unscharf wahrzunehmen in der Lage sind, in der wir uns nicht zu halten vermögen – sei es aus Stärke oder aus Schwäche. Er gehört einem Kreis von Denkern an, der als eigenwillig oder eigenartig bezeichnet, dem wissenschaftlichen Zugriff vorenthalten bleibt. Namen wie Vico, Galiani, Hamann, Yorck von Wartenburg gehören in diese Traditionslinie von Denkern, denen nicht der Lorbeer des Fortschrittswissens zuteil wird. Und doch wird allenthalben ihre geistige Notwendigkeit verspürt, das Unabdingbare ihres Erscheinens, weil sie uns auf ein Anderes, Höheres verweisen, ohne es selbst vorauszusetzen.

Durch sie, und das ist auch ein unabweisbarer Verdienst Friedrich Georg Jüngers, wird ein Maß und eine Mitte deutlich, die uns im Umgang mit den Geschenken des menschen-freundlichen Prometheus – enlightenment and technology – innehalten läßt. Wir erstaunen in der Erkenntnis, daß das Feuer des Prometheus ein anderes ist, als die unverlöschlich wärmende Flamme der Hera. Aus solcher Erkenntnis fließt Entlastung, Freiheit und ursprüngliche Heiterkeit.

Mit Ernst Jünger tritt ein andersartiger Typus geistigen Daseins uns entgegen. Das wird schon am äußeren deutlich, vor allem am Blick: strahlend, fest, wach, immer auf der Suche danach, das Erfaßte zu durchdringen und in ihm das Unbedingte freizulegen – stereoskopisch. Beim jüngeren Bruder dagegen: große, von schweren Lidern überwölbte Augen mit einem milden, aber klaren Blick, ohne jene angestrengte Wachheit, die heute so häufig ist.

Die großen, unveränderlichen Maße sind es, an denen sich die Bedeutung des Menschen erweist. Ernst Jünger hat sich zeitlebens mit ihnen beschäftigt. Sie sind Schlüssel, mit denen man nicht nur das innerste, sondern zugleich die Welt erschließt, die Zutritt gewährt zu den Quellen seiner Macht und zu dem Geheimnis, das sich hinter seiner Herrschaft verbirgt. An diesen Quellen, in diesem Geheimnis sucht Jünger als "preußischer Anarchist" des "abenteuerlichen Herzens", als "Arbeiter", als "Waldgänger", als "Anarch Manuel Venator" aus "Eumeswil" nach einem "tieferen Sein, mit anderen Worten nach Läuterung". Er schreibt in den Strahlungen: So kommt es auch, daß mein Zugang zur Theologie durch die Erkenntnis führt. Ich muß mir Gott zunächst beweisen, ehe ich an ihn glauben kann. Das heißt, ich muß den gleichen Weg zurückgehen, auf dem ich ihn verließ. Ehe ich mich mit der ganzen Person und ohne jede Einschränkung über den Strom der Zeit zum anderen Ufer wage, müssen kunstreiche, geistige Brückenschläge, muß eine subtile Pionierarbeit vorausführen. Schöner wäre gewiß die Gnade, doch entspricht sie nicht der Lage und nicht dem Stand, in dem ich bin. Das hat wohl seinen Sinn; ich ahne, daß ich gerade durch meine Arbeit, durch meine Bögen, deren jeder das Widerspiel des Zweifels vom Grund auf festigt und tragbar macht – daß ich gerade durch diese Arbeit manchen zum guten Ufer mitgeleiten kann."

Geleit, Läuterung, Tröstung sind Motive, die in Ernst Jüngers geistiger Bewegung eine kaum zu überschätzende Rolle spielen. Dies zeigt sich auch daran, daß Ernst Jünger immer wieder zum Motiv des Schmerzes zurückkehrt, mit dem er das "tiefere Sein" erschließt. Ausgangspunkt dieser wiederkehrenden Betrachtung ist der Schmerz der Seele, des Geistes. "Der Schmerz ist allem Lebenden gemeinsam; das haben die Buddhisten besser als die Monotheisten erkannt. Der Schmerz wohnt in der Zelle; wir registrieren ihn. Gefühlter ist stärker als bewußter Schmerz. Sokrates leidet im Geiste, Christus in der Kreatur."

Diese kurze, scheinbar neuplatonische Betrachtung zeigt Ernst Jüngers Suche nach einer neuen kosmischen Ordnung, die uns über die Fährnisse des kommenden Jahrtausends geleiten soll. Sie ist durchaus keine Philosophie, sondern eine Theologie, die Erfahrungen des Denkens als Glaubensgewißheit, in der sich Göttliches offenbart, lehrt.

Der Schmerz ist allem Lebenden gemeinsam

Friedrich Georg Jünger ist allem Theologischen abhold. Ihm ist alles zuwider, was den Fortgang über das Mythische zum logischen und abstrakten Denken hinaus verfolgt und dabei in Streit mit dem Mythischen, Ursprünglichen und Kreatürlichen gerät. Ihm geht es nicht um das Unbedingte, um eine kosmische Ordnung. Er kennt kein "tieferes" Sein. Friedrich Georg Jünger sucht vielmehr einen unverstellten Blick auf die Welt zu vermitteln. Ohne die Möglichkeit zu sehen, läuternd oder heilend wirken zu können, sucht er aus der Position klassischer Objektivität die Erkenntnis unserer kritischen Lage zu vermitteln.

Es geht ihm dabei nicht um eine Philosophie, wie beispielsweise Heidegger, sondern um ein Sehendmachen, ein Blicköffnen. Lesen wir die philosophischen Essays Friedrich Georg Jüngers, so werden wir feststellen, daß es ein "Immer-wieder-Ansetzen" am Selbstverständnis unserer Zeit ist, das er zu durchdringen und dessen Naivitäten, Irrtümer und Verzerrungen er bloßzulegen und zu zerstören sucht. Doch dabei bleibt er nicht stehen: Je tiefer er dieses laue und bequeme Selbstverständnis durchdringt, zeigt er uns Maß und Mitte. "Durch Willen, Verstand und Empfindung nähert sich der Mensch dem Titanischen. Er neigt dazu, im Übermaß des Willens die Signatur der Größe zu sehen, daher muß ihm immer von neuem eingeprägt werden, daß es ohne Maß keine Größe geben kann. Maß ist etwas Ebenbildliches, das heißt, niemand kann sich selbst Maß sein und bleiben. Im Begriff des Maßes steckt das Verhältnis von Urbild und Ebenbild, und daraus ergibt sich Gültigkeit. Herakles ist ein Ebenbild des Zeus und hat Maß und Größe. Dieser Größe kann nachgeeifert werden."

Bei Friedrich Georg Jünger gibt es für das moderne Selbstverständnis keine Rettung. Hierin zeigt sich die besondere Radikalität seiner Position gegenüber der seines Bruders, der den Zugang zur Theologie über die Erkenntnis, die unsere Zeit gewährt, sucht. "Wir können nicht tun, ohne daß wir getan werden", schreibt Friedrich Georg Jünger und beschreibt darin, daß es nur zwei Möglichkeiten gibt, entweder sehend oder blind, prometheisch oder heldisch zu sein, wie es die frühen griechischen Dramen beschreiben. Es gibt nichts Heilendes, keinen Begriff von Natur und Gewissen, wie wir ihn kennen, es gibt nur ein Hindurch, blind und selbstzerstörerisch oder sehend und kreatürlich. In der bestaunenswerten Art, mit der sich im Denken Friedrich Georg Jüngers Skeptizismus und Einsicht, Imagination und Sinnlichkeit verbinden, klärt über die Verschiedenartigkeit der wesensverwandten Brüder auf.

Warum aber Wesensverwandtschaft bei solch grundlegender Differenz? Die Wesensverwandtschaft zeigt sich vielleicht am deutlichsten in der Unduldsamkeit beider gegenüber dem Selbstverständnis unseres Jahrhunderts. Beide finden sich an einem Wendepunkt des Denkens, in dem Zustand jener Ungewißheit, die mit dem Fortgang des wissenschaftlich exakten Wissens genau zusammenhängt. Für Ernst Jünger ist dieser Wendepunkt mit einer völlig neuen Morgenröte verbunden, für Friedrich Georg Jünger mit der Wiederkehr eines schon in der griechischen Philosophie erfahrbaren Konfliktes zwischen Abstraktion und Imagination. Auf dem Höhepunkt der Organisation und der damit verbundenen Schutzlosigkeit des Menschen, setzen beide bei den gleichen Phänomenen an.

Der Mensch versteht nichts vom Bau und Plan der Welt

Der Wille zur Macht, der technisch-dynamische Herauslösungsprozeß durch Apparatur und Organisation, der Verfall von Bindungen und Tradition, Demokratisierung, Ideologisierung, Verwissenschaftlichung, Vermassung und Vulgarisierung sind Ausgangspunkte ihrer Denkwege. Sie führen den Älteren zur Gewißheit einer göttlichen Ordnung des Kosmos, den Jüngeren, der kein Zutrauen dazu hat, daß der Mensch vom "Bau und Plan der Welt etwas versteht", zu einem blicköffnenden Denken, das über die Zersetzung unseres Selbstverständnisses jenen Rhythmus sichtbar macht, der, wie die Widerkehr, durch alles Leben hindurch geht, uns trägt und uns Maß, Mitte und Einsicht gewährt.

Beiden verdankt unser Jahrhundert viel, vor allem das Diktum, daß nicht die Ökonomie, sondern der sich in der Technik verwirklichende Wille zur Macht maßgebliche Ursache der Veränderung der Welt ist. Auch wenn es Friedrich Georg Jünger abgelehnt hätte, der auf die Weisheit von Sprichwörtern im Gegensatz zu seinem Bruder wenig hielt, hat sich ein chinesisches Sprichwort bewahrheitet: Die Eisenbahn wird von Menschen gezogen.


 
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