© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/98 18. September 1998

 
Rußland: Primakows Vergangenheit und Zukunft
Im Schleudersitz
von Ivan Denes

Unter dem neugewählten Ministerpräsidenten Jewgenij Primakow ist Rußland im Begriff, eine Restauration zu versuchen. Allerdings sind die Voraussetzungen nicht allzu günstig für entsprechende Maßnahmen im Bereich Wirtschaft und Finanzen. Ohne Blutvergießen größeren Ausmaßes scheint es geradezu unmöglich, Rußland in das Korsett der strengen Staats- und Planwirtschaft zurück zu zwängen. Was 1991 und 1993 nicht gelang, hat 1998 noch weniger Chancen. Das aber ändert nichts an der Tatsache, daß Primakow grundsätzlich ein Mann der Vergangenheit ist, vergangenen Idealen und vor allem vergangenen Methoden verpflichtet. Mit 68 Jahren ändert sich schwerlich die Hauptrichtung eines lebenslangen Wirkens.

In anderer Hinsicht stellt jedoch Primakow eine historische Premiere dar. Er ist der erste jüdische Ministerpräsident Rußlands, eines historisch durchaus nicht judenfreundlichen Landes. Anfang 1996, als Primakow seine Stelle als Chef der Auslandsspionage aufgab und das Amt des Außenministers übernahm – als Nachfolger des prowestlichen Reformers Andrej Kosirew – bemerkte die angesehene Jerusalem Post nicht ohne Ironie zum Aufstieg des fanatischen antiamerikanischen und antiisraelischen KGB-Urgewächses, er sei der dritte Außenminister der Sowjetunion bzw. Rußlands, der seinen Namen geändert habe: Lew Bronstein hatte sich zu Leo Trotzki gewandelt, Meïr Wallach war Maxim Litwinow geworden und aus Yona Finkelstein – eben Jewgenij Primakow.

Sein Vater stammte aus Kiew und starb, als Yona zwei Jahre alt war. Seine Mutter, die aus der bekannten Tifliser Kirshenblatt-Familie kam, heiratete in zweiter Ehe einen Armenier, in dessen Haus der Junge mit Sicherheit keine jüdische Erziehung genießen konnte. Daß er aber ein leidenschaftlich agierender Renegat werden würde, konnte damals noch niemand vermuten.

Primakow studierte am Moskauer Institut für Mittelöstliche Studien und arbeitete sich zum führenden Arabisten auf. Jahrelang war er Prawda-Korrespondent in Kairo, hinter den Kulissen versuchte er aber in den 70er Jahren, sich als Gegenspieler Henry Kissingers in Szene zu setzen – erfolglos. Er unternahm mehrfach den Versuch, Kontakte zur israelischen Regierung zu knüpfen, um sie zu Konzessionen gegenüber seinen radikalen Freunden – Hafez el Assad, Yasser Arafat, Saddam Hussein und Muamar el Gaddafi – zu bewegen. Die forscheste Abfuhr erhielt er, als er zu einem Geheimgespräch mit Itzhak Rabin nach Jerusalem fuhr. Weltweites Aufsehen erregte er, als er – als Sondergesandter Michail Gorbatschows – in Bagdad mehrfach versuchte, seinen persönlichen Freund Saddam Hussein zum Rückzug aus Kuwait zu überreden und ihn so vor der militärischen Niederlage zu retten.

Bei seinem Amtsantritt als Außenminister hielt Primakow vor dem Kollegium seines Hauses eine im Westen unbeachtet oder unbekannt gebliebene, programmatische Ansprache, in der er seine Vision und gleichzeitig seinen Meisterplan darstellte. In einem die halbe Welt umfassenden Bogen bemühte sich Primakow – und bemüht sich bis heute – eine antiamerikanische strategische Front zu schmieden, zu der an Seite Rußlands neben China, Indien, Iran, Irak, Syrien, Zypern, Griechenland und Serbien so viele Verbündete gehören sollen, wie nur möglich. Ob es um die Lieferung von Atomtechnologie an Indien oder den Iran, von modernstem Kriegsgerät an China, den Iran oder Syrien geht, um den Einsatz zur Aufhebung der Sanktionen gegen den Irak, den Sudan und Libyen, um die Lieferung der bekannten S-300 Luftabwehrraketen an Zypern oder von Raketentechnologie an das Mullah-Regime in Teheran, um den Status des Kaspischen Meeres oder um die Anlehnung der baltischen Staaten an den Westen – Primakow blieb immer seiner antiamerikanischen Gesinnung treu.

Nun ist der hochintelligente und leicht dämonische Mann viel zu weltgewandt, um nicht zu wissen, daß er ohne den Beistand des Westens die russische Wirtschaft nicht aus der tiefsten Depression ihrer Geschichte führen kann. Die Rezepte seiner Parteigänger in der Duma, Kommunisten und Nationalisten gleichermaßen, nämlich Verstaatlichung großer privatisierter Betriebe, Preiskontrollen, Devisenbewirtschaftung und schnelles Drucken ungedeckter Rubelmilliarden können eine kurzfristige Atempause herbeiführen, nach der die große Katastrophe aber eintreten wird. Sollte Primakow, der kein Wirtschafts- oder Finanzexperte ist, einen Kompromiß zwischen der westlichen marktwirtschaftstreuen Orientierung und dem von der Duma ihm oktroyierten Gespann Masljukow/Gerashenko und dessen reaktionären Vorstellungen nicht finden, wird die Welt Zeuge einer beispiellosen Wirtschaftskatastrophe werden. Allerdings kann man sich einen solchen Kompromiß nur schwer vorstellen: schon jetzt bietet die russische Wirtschaft das Bild eines geköpften Huhnes, das blutspritzend immer weiter in die falsche Richtung rennt.


 
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