© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/98 18. September 1998

 
NS-Bewegung: Eine Studie untersucht Themen von Parteiveranstaltungen
Rassismus unerwünscht
von Hans B. von Sothen

Der Nationalsozialismus hat sich innerhalb von nur knapp sechs Jahren von einer lokalen Bewegung zu einer systembestimmenden Partei innerhalb der Weimarer Republik entwickelt. Doch nicht mit Themen wie Antisemitismus oder Rassismus trat die nationalsozialistische Bewegung Ende der zwanziger Jahre ihren Siegeszug an. Gegenstand der politischen Auseinandersetzungen der NSDAP waren in der Regel viel eher die "Nationale Unterdrückung", die Reparationen oder Kommunismus und Sozialismus. Zu dieser Erkenntnis ist eine Forschungsarbeit des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) unter Mitarbeit der Sozialwissenschaftler Helmut Anheier, Friedhelm Neidhardt und Wolfgang Vortkamp gelangt. Wie aus einer Analyse von 1.116 öffentlichen Versammlungen der NSDAP in der Zeit von 1925 bis 1930 hervorgeht, wandelten sich die Nationalsozialisten in diesem Zeitraum in den Augen der Wähler von einer bloßen Protestpartei zu einer Partei mit nachhaltigem Anspruch, politische und wirtschaftliche Probleme zu lösen.

Nach der Wiedergründung der Partei 1925 (sie war nach dem Münchner Hitler-Ludendorff-Putsch von 1923 verboten worden) machte die NSDAP zunächst weder in der Mitglieder- noch in der Wählerentwicklung große Fortschritte. Wie das nationalsozialistische Lager insgesamt, befand sich die NS-Bewegung zunächst sogar im Abwärtstrend, wie die Reichstags- und Landtagswahlen vom Mai 1928 zeigten. Erst nach ihrem Wahldebakel von 1928 und einer internen Neuorganisation gelang es ihr im Verlauf der 1929 einsetzenden Krise des Parteienstaates, ein deutlicheres Profil bei den Wählern zu bekommen. Gegen Ende des Jahres 1929 bezeichnete die Münchner Polizeidirektion die NSDAP als "Volkspartei des Protests" und sprach von ihrem bemerkenswerten Aufschwung, der sich dann in den Wahlen von 1930 niederschlug.

In der damaligen Zeit, in der die heute üblichen Massenmedien noch weitgehend unbekannt waren, propagierte die NS-Bewegung ihre Problemdeutungen vorrangig in politischen Veranstaltungen. Diese mußten – nach einer Direktive der Parteiführung – im Parteiblatt, dem Völkischen Beobachter, annonciert werden. In einem Forschungsvorhaben der WZB-Abteilung "Öffentlichkeit und soziale Bewegungen" wurden nun derartige Ankündigungen in der Rubrik "Aus der Bewegung" für den Zeitraum von Februar 1925 bis September 1930 inhaltlich analysiert.

Insgesamt wurden 7.125 Ankündigungen zu 3.146 verschiedenen Veranstaltungen in München registriert. Rund die Hälfte (1.1551) betraf interne Parteitreffen; die anderen 1.595 kündigten öffentliche Versammlungen an, von denen wiederum 1.116 jeweils Thema und Redner nannten. Die Untersuchungsfrage der WZB-Wissenschaftler lautete, ob der Erfolg der NS-Bewegung mit der Veränderung propagierter Themen und Themenkombinationen zusammenhänge. Dazu wurden die 1.116 Vortragsthemen inhaltsanalytisch erfaßt und in 24 Kategorien klassifiziert.

Die Ergebnisse zeigen deutliche Veränderungen bei den Themenschwerpunkten der öffentlichen Veranstaltungen, für die geworben wurde. Ein Bezug zur eigenen NS-Bewegung und das Wort "national" kommen am häufigsten vor. Erstaunlich ist jedoch vor allem, welche Themen über die Jahre hinweg Karrieren gemacht haben. Hier gibt es "Gewinner" und "Verlierer".

Zu den auffälligsten "Verlierern" gehören die Bereiche "Rasse" und "Judentum", die die NS-Propaganda am Ende der 20er Jahre kaum mehr zur Etablierung eines eigenen politisch relevanten Profils nutzte. Dieser auf den ersten Blick verblüffende Befund scheint mit den Thesen von Daniel Jonah Goldhagen ("Hitlers willige Vollstrecker") über die lange Geschichte eines umfassenden und radikalen Antisemitismus in Deutschland schwer vereinbar. Deutlich ist in jedem Falle, daß die NSDAP Ende der 20er Jahre, als sie ihren Siegeszug antrat, zunehmend darauf verzichtete, mit antisemitischen Themen Wahlkampf zu betreiben, vor allem wohl, weil das breite Wahlpublikum dies nicht schätzte.

Deutliche "Gewinner" waren über die Jahre solche Themen, die sich mit den Reparationsverträgen Deutschlands mit den Alliierten nach dem Ersten Weltkrieg beschäftigten. Eine große Rolle spielten hier vor allem die Agitation gegen den Young-Plan, der Deutschland, so die Nationalsozialisten, unterdrücke. Themen wie "NS-Politik als Chance" zur Lösung nationaler Probleme sollten die nationale und allgemeinpolitische Kompetenz der NSDAP unter Beweis stellen und ihre Glaubwürdigkeit als "Retter in der Not" unterstreichen.

Insbesondere spielten auch Themen wie Kommunismus und Sozialismus in der NS-Propaganda eine erhebliche Rolle. Vor allem auch deshalb, weil in der Bevölkerung eine weitverbreitete Angst vor dem Kommunismus Moskauer und Lenin-Stalinscher Prägung bestand, die der Nationalsozialismus in erheblichem Maße für sich zu nutzen verstand. Nicht zuletzt der Kommunismus war es ja, der durch seine Putschversuche zwischen 1919 und 1923 sowie durch seinen planmäßigen Aufbau der KPD zur Massenpartei seit der Auflösung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) für große Unruhe in der Bevölkerung sorgte. Es war diese allgemeine Unsicherheit, die die Nationalsozialisten in ihren Veranstaltungen thematisierten, was schließlich dazu führte, daß die Masse der Bevölkerung in ihnen ihre letzte Rettung sah.


 
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