© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/98 25. September 1998

 
Clinton-Affäre: Das Private wird zunehmend politisch
Amerika ohne Hose
von Alain de Benoist

Man glaubt, das alles schon einmal gesehen zu haben, aber die Clinton-Affaire berührt doch den Tiefpunkt. In dem Moment, wo Rußland beginnt zusammenzubrechen, wo der Balkan Feuer fängt, wo das nahöstliche Pulverfaß droht, sich zu entzünden, wo Südostasien und Lateinamerika in eine Finanzkrise taumeln, da gibt es in den Vereinigten Staaten kein wichtigeres Ereignis, als die "unschicklichen Handlungen" des präsidentiellen Gemächtes. Nicht wegen der Unterstützung von Kabila im Kongo oder den Taliban in Afghanistan sieht sich "Darling Bill" heute mit der drohenden Amtsenthebung konfrontiert. Nein, sondern wegen eines Meineids bezüglich eines kleinen Flecks auf dem Kleid einer Praktikantin des Weißen Hauses, die nicht auf den Mund gefallen ist. Wird, nunmehr berühmter als die Nase der Kleopatra, das Kleid von Monica
das Gesicht der Welt verändern?

Die Europäer haben diesem Schauspiel mit einer ziemlichen Verblüffung und einer Mischung aus Bestürzung und offenem Gelächter zugesehen. Was die Franzosen betrifft, so wissen sie sehr gut, daß, wenn man bei ihnen die Staatschefs wegen ehelicher Untreue entließe, es für eine lange Zeit keinen Menschen mehr im Élysée-Palast geben würde. Aber diese Reaktionen verraten ein tiefes Unverständnis Amerikas. Jacques Amalric hat es sehr richtig in der Libération gesagt: "Die Vereinigten Staaten waren nie eine Fortsetzung von Europa. Im Gegenteil: sie wurden durch einen sehr starken Willen zum Bruch mit dem alten Kontinent geboren." Und weil sie das vergessen haben, reiben sich heute so viele Europäer ungläubig die Augen angesichts des Spektakels, das sich zur Zeit in Washington bietet.

Tocqueville hat es bereits beobachtet: "Der Puritanismus ist nicht nur eine religiöse Doktrin; er vermischt sich in mehreren Punkten mit den unbedingtesten demokratischen und republikanischen Theorien." In der Tat haben seit den Zeiten der Gründerväter die drei Eckpfeiler des amerikanischen Credos nie aufgehört zu bestehen: eine uneingeschränkte puritanische Grundlage, ein beständiger Glaube an die absolute Überlegenheit des amerikanischen Systems und ein ungeteilter Glaube an die Tugenden der öffentlichen Gerichtsverhandlung. Seit ihren Ursprüngen haben die Amerikaner ein Gemeinwesen bauen wollen, das vor allem auf eine moralische Ordnung aufgebaut ist.

Und wenn man noch einige weitere Zutaten zufügt, wie den Neofeminismus, der als erster verkündete, daß "das Private politisch" sei oder einen Schock-Journalismus, der das Recht des Individuums auf ein Privatleben gegenüber dem Recht der Öffentlichkeit, alles zu wissen, geringschätzt, dann wird die Clinton-Lewinsky-Affäre unmittelbar verständlich, wenn nicht sogar logisch.

Aus dieser Sicht ist das mea culpa, das Clinton alle zwei Tage vor sich hin betet, seine öffentlichen Geständnisse, seine groteske Art, seine Familie, seine Mitarbeiter, seine Regierung und das amerikanische Volk mit geröteten und feuchten Augen um Verzeihung zu bitten, seine Bitte um "geistlichen Beistand", um seinen "gebrochenen Geist", die Bekenntnisse seiner "Sünden" und seine Bitte um den "Schutz Gottes", all dieses ebenso bedauernswerte wie erheiternde Gewäsch, in der Tat absolut logisch. Das Privatleben der in der Öffentlichkeit stehenden Menschen existiert nicht in den Vereinigten Staaten, da diejenigen, die gewählt werden wollen, sich zu diesem Zweck eben dieses ihres Privatlebens bedienen. Wie alle seine Vorgänger hat Clinton sein Privatleben für seinen Wahlkampf benutzt, um seine Frau vorzuzeigen, seine Tochter, seinen Hund, sogar seine Goldfische, um zu zeigen, wie sehr er ein Amerikaner "wie du und ich" ist. Jetzt zahlt er den Preis dafür.

Aber in einer Groteske gibt es auch immer etwas Abgründiges. Und in dem Abgründigen liegt hier die tiefere Bedeutung dieses Non-Ereignisses. Der Clinton-Bericht und das Verhör, durch den gemeinsamen Willen von Kongreß und Staatsanwalt Starr ins Internet gesetzt bzw. im Fernsehen übertragen, hingepfuscht wie eine Mischung aus billigem Gossenroman, Porno und Inquisitionsverhör, hat es fertiggebracht, alle Einwohner dieses Planeten zu Voyeuren zu machen. Dennoch sollte man sich nicht täuschen. Dieser universelle Voyeurismus hängt zusammen mit einer Allgemeinheit, deren Zauberwort die sofortige Transparenz von allem für alle, die Videoüberwachung, die vergleichende Werbung und die Cyber-Denunziation ist. In dieser globalisierten Allgemeinheit zeichnet sich eine neue "soziale Tele-Nähe" ab, eine Transparenz aller für alle, in der einige das non plus ultra der Demokratie sehen wollen – "Wenn wir alle schuldig sind, dann werden wir erst die richtige Demokratie haben", sagte Albert Camus einmal ironisch –, die aber nichts weiter als die moderne Form der Barbarei ist und gleichzeitig das schlichte Gegenteil von Demokratie. Mit einem Amerika, das von einem derart geschwächten Präsidenten regiert wird, den man sich inwischen nur noch mit heruntergezogenen Hosen vorzustellen vermag.


 
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