© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/98 25. September 1998

 
Mehr Streit um Inhalte
von Dieter Stein

Der Beitrag von Hans-Ulrich Pieper ("Schuldig ohne Ende?", JF 36/98) ist zum Auslöser für eine lebhafte redaktionelle Diskussion in der jungen freiheit geworden. Die "reeducation" (Umerziehung) in Deutschland nach 1945 durch die USA war Thema des Aufsatzes von Hans-Ulrich Pieper. Die Fakten sind unstrittig. Sie sind von Caspar von Schrenck-Notzing ("Charakterwäsche", 1965) aufgearbeitet worden und mittlerweile wissenschaftlich anerkannt.

Dahinter steckt jedoch ein grundsätzliches Problem: Eine Lebenslüge der deutschen Rechten, die sich aus dem Thema "Umerziehung" speist. Dem unmenschlichen und von jedem redlichen Historiker abgelehnten Vorwurf der Kollektivschuld gegen die Deutschen wird immer wieder gerade von rechts begegnet, indem die Verantwortung eines verbrecherischen Regimes zerredet wird, aus Akteuren Getriebene und aus vom Dritten Reich im Namen Deutschlands begangenen Verbrechen, Deutschland "zugeordnete Exzesse" (Pieper) gemacht werden.

Hans-Ulrich Pieper schreibt der psychologischen Kriegsführung der Amerikaner zu, den "totalen Sieg über Deutschland" vollendet zu haben, das Jahr 1945 habe die "Umwertung aller Werte" gebracht, die Offiziere der Reeducation hätten den Auftrag gehabt, "den deutschen Michel von dem Wertesystem seiner geistigen Autoritäten abzubringen, auf die er bisher mit Stolz blicken durfte". Zur Zertrümmerung der deutschen Werte haben aber zuletzt die US-Offiziere und ihre Helfer beigetragen. Sie stießen demonstrativ vom Sockel, was das nationalsozialistische Regime bereits vorher zerstört hatte. Den Vorwurf, den man der Reeducation jedoch zu Recht machen muß, ist, daß durch sie edle deutsche Traditionen, derer sich der Nationalsozialismus trotz aller krampfhafter Anstrengungen nicht bemächtigen konnte, nun als Vorläufer des NS deklariert und für ihn in Haftung genommen wurden – Traditionen und Werte, die Frauen und Männer in den Widerstand gegen Hitler trieben.

Statt dessen bemüht Pieper rechte Legenden, die USA seien ausgezogen, um Deutschland neben Demokratie, Freiheit und Christentum auch "Coca-Cola und Kaugummi" zu bringen. In Wahrheit wurde Coca-Cola im Deutschen Reich seit 1929 getrunken (erster Konzessionär war der Boxer Max Schmeling) und erst seit 1941 im Zuge der Kriegswirtschaft wegen Zuckermangels durch die noch heute verbreitete Limonade "Fanta" ("Fantasiegetränk") ersetzt.

Was ist eigentlich in Deutschland heute "rechts"? Hans-Dieter Schütt erklärte im Rahmen der Debatte "Wie national muß die Linke sein?" im Neuen Deutschland, "eine intellektuelle Rechte macht allein durch ihre Existenz auch auf langjährige Verfehlungen" der Linken aufmerksam. Mit anderen Worten: Die Rechte stellt die Ansammlung linker Defizite dar? Natürlich gibt es erlesene intellektuelle Standortbestimmungen von rechts. Es gibt eine prächtige Geistestradition von rechts, von Pareto über Jünger bis Gehlen. Botho Strauß verfaßte – kurz nach den ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Rostock, Hoyerswerda, Mölln 1992 und der aufgeflammten Diskussion um eine "Gefahr von rechts" – eine dichterische Definition dieses Begriffes: "Rechts zu sein, nicht aus billiger Überzeugung, aus gemeinen Absichten, sondern von ganzem Wesen, das ist, die Übermacht einer Erinnerung zu erleben: die den Menschen ergreift, weniger den Staatsbürger, die ihn vereinsamt und erschüttert inmitten der modernen aufgeklärten Verhältnisse, in denen er sein gewöhnliches Leben führt. Die Durchdrungenheit bedarf nicht der abscheulichen und lächerlichen Maskerade einer hündischen Nachahmung, des Griffs in den Secondhandshop der Unheilsgeschichte. Es handelt sich um einen anderen Akt der Auflehnung: gegen die Totalherrschaft der Gegenwart, die dem Individuum jede Anwesenheit von unaufgeklärter Vergangenheit, von geschichtlichem Gewordensein, von mythischer Zeit rauben und ausmerzen will."

Warum bezeichnen sich aber – abgesehen von Intellektuellen und Dichtern – Menschen als "rechts"? Es ist offenbar ein Konglomerat von Motiven, darunter besonders stark die Ablehnung herrschender Politik aus Gründen, die schlicht "links" nicht artikuliert werden. Der Bezug auf die Nation und ihren Selbstbehauptungswillen ist hier ein Hauptmotiv.

Roland Wehl hat in seinem Beitrag "Was ist heute ’national’?" den Finger in einige rechte Wunden gelegt. Er hat bewußt die "Rechte" jenseits von Ideen, Denkern und Theorien als Alltagsphänomen betrachtet, das für jeden, der aufmerksam hinschaut, mit Händen zu greifen ist. Roland Wehl hat anhand einiger plastischer Beispiele vor Augen geführt, wie untauglich der Begriff "rechts" einerseits ist, Menschen unterschiedlichster Art unter einen Hut zu bringen, zu welchen absurden "Bündnissen" andererseits das vermeintliche "Rechtssein" aber immer wieder führt. Er beschreibt das windelweiche Vorstandsmitglied eines Unternehmens, das zu feige ist, sich zu seinen popeligen konservativen Überzeugungen zu bekennen, der aber sagt, "Ich denke genauso wie Sie!" Ist Feigheit rechts?

Er beschreibt den servil als Philosemitismus verpackten Antisemitismus von Rechten, die aus einem deutschen Juden einen "Deutschland verbundenen" "bewußten Juden" machen.

Er beschreibt den Größenwahn "rechter" Parteipolitiker, die lieber von "Material" als von Menschen sprechen und sich wundern, warum so keine Menschen zu gewinnen sind. Er zeigt, daß allein die Konfrontation mit der Linken einen sozial sensibilisierten Rechten in Koalitionen mit Großunternehmern treibt, denen Profit alles, das Wohl des Landes aber nichts bedeutet, der etwas gegen Gewerkschaften tun will und glaubt, deshalb "Rechter" zu sein. Warum sagt überhaupt jemand: "Das ist einer von uns!"?

Roland Wehl berührt das verlogene oder teilweise ungeklärte Verhältnis der Rechten zum Widerstand im Dritten Reich, der oft eher eine Feigenblattfunktion ausübt. Es fehlt eine offensivere Würdigung und Vertretung des Vermächtnisses des nationalen Widerstandes gegen das NS-Regime, die Integration der Leitbilder – nicht nur des 20. Juli 1944 – in die rechte politische Kultur, die sich als breite Identifikationsmöglichkeit und Orientierung für junge Deutsche anbietet.

Roland Wehl berührt den objektiven Befund, daß einerseits rechts oft von "nationaler Solidarität" die Rede ist, andererseits sozialdarwinistische Ansichten ("survival of the fittest") hoch im Kurs stehen. Verachtung gegenüber sozial Schwachen, gegenüber "Sozialschmarotzern" ist unleugbarer Bestandteil "rechter" Alltagskultur.

Manuel Ochsenreiter warf Roland Wehl "Anbiederung" an die Linke vor. Als Beleg führt er den Satz an, den Roland Wehl in einem Beitrag für das Neue Deutschland schrieb: "Die antinationale Haltung der Linken hat immer nur der Rechten genutzt." Das ist eine nackte Feststellung. Man kann ihn auch umkehren: Die antisoziale Haltung der Rechten hat immer nur der Linken genutzt. Beide Sätze sind verallgemeinernd, beinhalten aber einen ernsten Kern. Und mehr noch: Weil das Nationale in Deutschland im Gegensatz zu anderen Staaten für die Rechte reserviert zu sein scheint, kann es sich die Rechte leisten, inhaltlich auf vielen anderen Gebieten so einfalls- und profillos zu sein.

Ursächlich an Zustand, Bild und inhaltlicher Darstellung dessen, was in Deutschland rechts eingeordnet wird und sich "rechts" definiert, ist nicht – wie allzu oft larmoyant behauptet wird – die Darstellung in der Öffentlichkeit und vorhandene Klischees, sondern schuld sind die Betroffenen überwiegend selbst. Das muß ich selbstkritisch als Chefredakteur einer "rechten Wochenzeitung" eingestehen.

Wie ist es möglich, daß die Zeit in ihrer jüngsten Ausgabe "Rechts wird schick" titelt, um den Trend unter Jugendlichen dann damit zu begründen, hinter der um sich greifender Ideologiefreiheit unter Jugendlichen gewinne asozialer Egoismus nach dem Motto "Wehe dem, der schwach ist" die Oberhand, die Jugend entwickele sich in eine Richtung, "wo eine überzogene Individualisierung keine Solidarität mehr gedeihen läßt und die Hilflosen halt auf der Strecke bleiben". Als weiteren Beleg zieht die Zeit heran, daß Bürger- und Umweltinitiativen unter Mitgliederschwund und mangelndem jugendlichen Engagement leiden. Alles Symptome für einen Rechts-Trend? Ist rechts wirklich gleichzusetzen mit Ego-Trip und Entsolidarisierung?

Die Erfolglosigkeit rechter Parteiprojekte bei den Wahlen trotz großer potentieller Stimmenanteile hat nun wieder eine Diskussion angefacht über die Zersplitterung und Zerstrittenheit des rechten oder nationalen Lagers. Es sind nun einige, die daran appellieren, es gelte das Trennende zu überwinden, "Rechte an einen Tisch". So schreibt beispielsweise diesen Monat der aus der FDP ausgetretene Heiner Kappel, Stellvertreter des BFB-Vorsitzenden Manfred Brunner, in einem Rundbrief: "Die Rechten, die Patrioten, die’s wirklich noch mit der Demokratie ernst meinen, haben nichts wichtigeres zu tun, als sich stets neu und mit aller Kraft voneinander abzugrenzen. (...) Würden ihr Abgrenzungsgeschwätz und ihre kräftigen Distanzierungsschwüre nicht so laut tönen, sie könnten das Gelächter der Linken über so viel politische Einfalt nicht überhören."

Kappels These unterstellt, in der "Rechten" gäbe es starke Gemeinsamkeiten, Gegensätze existierten lediglich wegen des Außendrucks, nämlich des latenten Extremismusvorwurfs ("Nähe zu Rechtsextremisten") durch linke Gruppen, Medien und Innenministerien. Also grenzen sich Parteien, Organisationen und Personen lediglich "taktisch" voneinander ab.

Unter diesem Außendruck des permanenten Vorwurfes, der Verdächtigung solidarisieren sich aber Menschen, die ursprünglich inhaltlich völlig verschiedenen Ideen anhingen. In einem Akt der Fremdbestimmung werden inhaltliche Differenzen über Bord geworfen und es sitzen plötzlich Menschen in einem Boot, in dem sie ursprünglich nicht gemeinsam sitzen wollten.

Ich stelle folgende These auf: Die Rechte ist keinesfalls zu zerstritten, sie hat vielmehr zuwenig oder überhaupt keine Streitkultur. Wir brauchen also nicht weniger, sondern viel, viel mehr inhaltlichen Streit auf der Rechten. Wie schwierig das ist, habe ich erfahren müssen, als ich Alfred Mechtersheimer für seine Bündnisangebote an die DVU kritisierte, ohne daß er offenlegte, welche inhaltlichen Gemeinsamkeiten er als Pazifist und Basisdemokrat mit dem Nationalzeitungs-Verleger Frey sieht. Schade ist, daß Mechtersheimer inhaltlich bis heute nicht darauf reagiert hat.

Auf den Tisch müssen die Themen, die wirklich zu produktivem Streit und Dissens führen und bei denen die Rechte derzeit regelmäßig durch eigene Schuld in die Defensive gerät. Dies wird bestimmt nicht dazu führen, daß sich alle einig sind, daß aber die in einem Boot sitzen, die auch hineingehören:

1.) Welche Idee der Gemeinschaft verbirgt sich hinter dem Begriff der Nation? Wie sehen rechte Entwürfe für die Integration von Ausländern aus?

2.) Wie ernst meint es die Rechte, wenn sie die soziale Frage stellt? Ist dies eine Masche, mit der man orientierungslose Jugendliche ködert, oder geht es wirklich um den Schutz der Schwächsten und die Solidarität zwischen allen Teilen der Gemeinschaft – zu der auch (nicht erst seit dem 20. Jahrhundert aufgenommene) Ausländer zählen? Wer ist verantwortlich für die unkontrollierte Einwanderung? Die einzelnen Ausländer oder die Unternehmen, die vom Sozialdumping profitieren und die Politiker, die die Gesetzesunsicherheit zu verantworten haben und die Lage verharmlosen?

3.) Wie ist das demokratische Selbstverständnis der Rechten? Ist beispielsweise die Forderung nach Volksentscheiden nur Mittel zum Zweck?

Eines zeigt die Debatte "Was ist heute ‘national’?" überdeutlich: Es stellt sich die Frage nach dem Sinn der Begriffe "Links" und "Rechts" angesichts des Scheiterns der Ideologien und der Auflösung der politischen Lager. Nur: Diese Feststellung ist ein ziemlich alter Hut. Wer die Aktualität dieser politischen Begriffe in Frage stellt, kann sich den Vorwurf der Feigheit einhandeln. In einer Gesellschaft, in der der Begriff "Rechts" gezielt zur Diffamierung und Ausgrenzung von unliebsamen Positionen verwendet wird, in der es als anstößig gilt, sich als Rechter zu "outen", ist es allein schon ein Akt von Zivilcourage und Bürgerrechtsbewußtsein, sich diesem Begriff zu stellen. Dabei besteht die Gefahr, daß man sich die eigene Positionierung vom politischen Gegner diktieren läßt. Deshalb ist der Streit um Inhalte auch so wichtig.


 
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