© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/98  02. Oktober 1998

 
 
Gerhard Schröder: Der künftige Kanzler steht für eine Neue Politik
Das geistige Vakuum überwinden
von Horst Mahler

Schon Anfang der 80er Jahre sagte Gerhard Schröder schalkhaft lächelnd von sich, daß er Bundeskanzler werden würde. Man spürte, daß er es ernst meinte. Jetzt, da er kurz vor der Kanzlerschaft steht, ist zu fragen, was von ihm zu erwarten ist, wenn er ins Amt gewählt wird.

Im demokratischen Zeitalter stehen Persönlichkeiten, die von frühester Jugend an durch Erziehung und Bildung für das Herrscheramt qualifiziert wurden, nicht zur Wahl. Kritiker des Parteiensystems – für Altbundespräsident Richard von Weizsäcker ist es eine Wurzel des Übels – meinen, daß intellektuelle Bedürfnislosigkeit oder auch Gesinnungslosigkeit "die wichtigsten Voraussetzungen seien, um in einer Partei mitzuarbeiten oder aufzusteigen". (Konrad Adam). Das mag so sein. Die intellektuelle Bedürfnislosigkeit hat Kohl nicht daran gehindert, Kanzler zu werden. Schröder könnte den Beweis erbringen, daß auch der gewollte Schein von Gesinnungslosigkeit unschädlich ist. Daß Politiker in öffentlicher Rede – hoffentlich wissentlich – unhaltbare Versprechen machen und am laufenden Band – hoffentlich bewußt – Unsinn verzapfen, ist systembedingt und nicht Ausdruck von Charakterlosigkeit oder Dummheit. Wir leisten uns eben ein politisches System, in dem die wirklichen Probleme gar nicht zur Sprache kommen.

Die Parteien stehen heutzutage nicht für Prinzipien und Gesinnungsfestigkeit, sondern für ein Dienstleistungsangebot, das unter anderem die Erzeugung von Illusionen beinhaltet. Und sind wir nicht süchtig nach Illusionen? Die Parteien erzeugen mit ihrer dem Wahlvolk zugewandten Seite Bewußtseinsreize aller Art, um möglichst viele Wählerstimmen auf sich zu vereinigen. Das hat nichts mit sachgerechter Information oder gar Problemanalyse zu tun. Wahlprogramme und Wahlversprechen sind in diesem Sinne keine Aussagen über wirkliche Absichten und Orientierungen, sondern Stimmungsanreize, die ein bestimmtes Wahlverhalten erzeugen sollen. Das ist Politikspektakel. Man sollte es nicht mit der Politik selbst verwechseln. Bei Schröder ist die Reihenfolge interessant: Sein Entschluß, Kanzler zu werden, folgte nicht mehr oder weniger beiläufig aus der Erfahrung, daß er in den Medien "gut rüberkommt". Er hat die medienfreundliche Seite an sich entwickelt, um bei der Verwirklichung seines vorgefaßten Entschlusses voranzukommen. Er dürfte sich im Laufe der Jahre eine Vorstellung davon gemacht haben, was auf ihn zukommt, wenn er sein Ziel – das Kanzleramt – erreicht hat. Er wird also nicht ganz unvorbereitet sein.

Man weiß nichts von Schröder, wenn man ihn nur in der Öffentlichkeit beobachtet. Er zeigt sich erst im vertraulichen Gespräch; wenn er darüber nachdenkt, wer er ist und was er in der Politik will. Als er Anfang der 80er Jahre der Frage nachging, ob der Terrorismus durch philosophische Einsicht zu überwinden sei, gewährte er einen tiefen Einblick in sein politisches Glaubensbekenntnis. Was ihn bewegt, geht weit über den Horizont des gängigen Politikverständnisses hinaus. Er nennt es den "neuen Konsens". Den "Raubtierkapitalismus" – wie Helmut Schmidt neuerdings das dem Politikbetrieb zugrundeliegende Gesellschaftsmodell nennt – hält er für bankrott. Aus der Froschperspektive des Wohlfahrtstaates komme das Wesentliche nicht in den Blick. Der Egoismus der Einzelnen werde grenzenlos und ruiniere das Gemeinwesen, wenn sich die Bürger mit diesem nicht identifizieren können. Die lebensnotwendige Identifikation gelinge aber nur in einem Geschichtsbild, das unseren Nationalstolz nicht vernichtet. Weshalb unser Geschichtsbewußtsein die Herausbildung Europas zum christlichen Abendland, die Abwehr der Mongolenstürme und des Osmanischen Imperialismus, die Kreuzzüge, die Renaissance, die Reformation sowie die Aufklärung und die französische Revolution, den Holocaust und den Gulag in sich aufnehmen und als geistige Mächte vergegenwärtigen müsse. Nicht Wirtschaftskrisen seien das Problem für die Politik, sondern die totale Veräußerlichung der Menschen durch das atheistische Weltbild und die ihm zugrundeliegende rationalistische Denkart machten das Gemeinwesen politikunfähig. Die Menschen würden nicht zu sich selbst befreit, sondern zur Randerscheinung des Gesellschaftlichen, das durch die Behauptung seiner Sachzwanghaftigkeit mystifiziert werde. Der Mensch selbst sei für das System zum Störfaktor geworden.

Diese Botschaft wird von der Spaßgesellschaft unserer Tage noch nicht verstanden. Das Kommende ist noch unsichtbar. Schröder muß verstanden werden. Verstanden wird nur, was schon bekannt ist. So redet er eben über den materiellen Wohlstand und über die Bedrohungen desselben und über Verteilungsgerechtigkeit. Über das aber, was ihn eigentlich bewegt, muß er in der Öffentlichkeit noch schweigen.

Doch in manchen Formulierungen seiner öffentlichen Rede deutet sich die Neue Politik schon an: Während Helmut Schmidt epigonal der marxistischen Semantik verfällt, indem er die Bösen den Guten – die "einigen zehntausend habgierigen Dealer und Manager" den "sechs Milliarden Menschen" – entgegensetzt, ist Gerhard Schröder längst über die Entgegensetzung vermeintlich feindlicher Klassen hinaus.

Grundlage des neuen gesellschaftlichen Konsenses ist für ihn die Einsicht, daß der "Kapitalist" – also der Unternehmer und der an seine Stelle getretene Manager – und die Arbeitnehmer Teile eines Ganzen sind, das sich selbst zerstört, wenn die eine Seite sich die jeweils andere unterwerfen will. Er weiß, daß die "einfachen Leute" in unserem Lande (und nicht nur hier) zwar den materiellen Reichtum mit ihrer Arbeit erzeugen, den Unternehmern und Managern aber die Ermöglichung ihrer Produktionen verdanken. Er weiß aber auch, daß sich das als "Kapitalismus" denunzierte System schließlich lebensfeindlich verhält und die Existenz der Gattung auf dem Spiele steht.

Anfang der 80er Jahre bestand für ihn Politik darin, den zerstörerischen Automatismus des Marktes dadurch aufzuheben, daß der Primat der Volkswirtschaft über das betriebswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Denken wiederhergestellt wird. Das war für ihn die Grundlage der Gerechtigkeit. "Jedem das Seine" hieß für ihn, daß das Streben nach Vermehrung des privaten Reichtums in die Grenzen zurückgeführt werden muß, in denen es mit dem Gemeinwohl verträglich ist. Darin lag die Absage an den Liberalismus, der naiv glaubt, daß die Förderung des privaten Nutzens immer und grenzenlos auch das Gemeinwohl befördere. Von diesem Denkansatz ausgehend, fand er Gefallen an der Hegelschen Philosophie. Er wurde Anfang der 80er Jahre auf die Studie von Slomo Avineri über Hegels Theorie des modernen Staates aufmerksam. Sie öffnete ihm die Augen dafür, daß Hegel wie kein anderer das Spannungsverhältnis von privatem Nutzen und Gemeinwohl durchdacht hatte. Er veranlaßte eine Rezension des Buches von Avineri für das theoretische Organ seiner Partei, in der Hoffnung, dadurch die Hegelschen Gedanken der innerparteilichen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Er suchte das Zwiegespräch mit einem Manne, der der deutschen Linken als Unberührbarer gilt, aber von der Akademie der Wissenschaften Rußlands zu den weltweit bedeutendsten politischen Denkern der Gegenwart gezählt wird: mit dem deutschen Kulturphilosophen Günter Rohrmoser. Er machte sich dessen These zu eigen, daß Politik erst dann wieder etwas bewirken könne, wenn das geistige Vakuum, in das wir gestürzt sind, überwunden sei. Eine am Gemeinwohl orientierte Politik im eigentlichen Sinne des Wortes setze die Erinnerung der christlichen Grundlagen unserer Kultur und unseres Freiheitsverständnisses voraus. Schröder zog daraus den Schluß, daß die politischen Kräfte für diese auch von ihm für notwendig gehaltene Wende wohl am ehesten bei den nicht ideologisierten Teilen der SPD und in der CSU zu finden seien. Mit Lust wälzte er damals den Gedanken einer Koalition von SPD und CSU. Warum sollte er das vergessen oder seine Meinung geändert haben? Vermutlich will er als ein großer Kanzler in die Geschichte eingehen. Größe erlangt man aber nur, wenn die Geschichte den Raum dafür hergibt. Hier scheint Schröder vom Schicksal begünstigt zu sein. Die Zeichen, die eine Zeitenwende ankündigen, sind unübersehbar. Er wird sie zu deuten wissen, wenn er auf seine innere Stimme hört und seinem Verstand vertraut. Helmut Kohl hat nur den Platz verteidigen wollen, den er im Buch der Geschichte Deutschlands und Europas einzunehmen gedenkt. Was er in 16jähriger Regierungszeit vollbracht hat, kann er am Ende seines politischen Lebens nicht mehr grundsätzlich in Frage stellen wollen. So ist er mit Blindheit geschlagen. Schröder muß und wird aus seinem Schatten heraustreten. Allein das wird ihn hellsichtig machen für alles, was für eine Neue Politik spricht.

Kohl steht für eine Politikergeneration, die aus einem Schuldgefühl heraus Deutschland als Nation in das vereinigte Europa hinein auflösen wollte. Er und die jugendlichen Demonstranten, die im November 1989 mit der Losung: "Nie wieder Deutschland!" durch Berlins Straßen zogen, sind vom selben Geist. Wir erleben gegenwärtig mit gemischten Gefühlen das Scheitern dieser Politik.

Nach französischen Untersuchungen soll es zur Zeit in Deutschland mehr politische Gefangene als in der DDR im Jahre vor ihrem Zusammenbruch geben. Nur werden diese Überzeugungstäter, die wegen Volksverhetzung, wegen Leugnung des Holocaust und wegen Fortführung verbotener Organisationen verurteilt sind, hierzulande nicht als politische Gefangene wahrgenommen, sondern als Neo-Nazis aus dem politischen Spektrum ausgegrenzt. Es sind überwiegend junge Leute, die auf diese Weise zu Märtyrern der nationalen Wiedergeburt Deutschlands werden. Diese Wiedergeburt vollzieht sich vor unseren Augen, denen wir aber nicht trauen wollen. Sie ereignet sich auch inmitten der Sozialdemokratischen Partei. Helmut Schmidt wird nicht allein bleiben mit seinem Appell zu einer "großen nationalen Willensanstrengung" und der Einsicht, daß die Initiative zur Sanierung des in einer tiefen Krise steckenden Weltfinanzsystems nicht von den USA, nicht von Europa sondern nur von Deutschland ausgehen könne. In einer bisher wenig beachteten Wahlanzeige hat Schröder deutlich gemacht, daß er Deutschland will. Im Text spiegeln sich die philosophischen Gespräche vom Anfang der 80er Jahre. Damals hatte Schröder ein klares Bewußtsein davon, daß Geschichte nicht – wie die marxistisch geprägten Schulen lehren – wesentlich Gesellschaftsgeschichte ist, sondern Völkergeschichte; daß nicht "die Gesellschaft" – ein Abstraktum – sondern Völkerindividuen Träger der Geschichte sind; daß die Kräfte, die die Geschichte bewegen, die Lebenskräfte von Völkern sind und nicht gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten, wie sie Karl Marx entdeckt haben will. Schröder hat hier als Kanzlerkandidat neue Töne angeschlagen. Er verspricht, als Bundeskanzler die geistigen Blockaden in Deutschland aufzubrechen, eine Initiative Gemeinsinn und Zusammenhalt auf den Weg zu bringen, um das deutsche Volk wieder zusammenzuführen. Es klingt hier das Hegelsche Staatsverständnis an. Seine Einsicht in das Wesen der Geschichte könnte sich als der Schlüssel zur Gestaltung der Zukunft erweisen.

Das gewaltsam verdrängte Nationalbewußtsein wird wie jedes gewaltsam unterdrückte seelische Streben krank und gefährlich. An den Rändern der Gesellschaft platzt es jetzt in der häßlichen Gestalt eines juvenilen Gewalt- und Führerkults hervor, der uns erschaudern läßt. Die politische Mitte scheint noch weit davon entfernt zu sein, darin das Positive zu erkennen: die Lebendigkeit und Kraft des Anspruchs der Deutschen, als Volk und Nation – und dann auch als Friedensmacht – geachtet zu werden. Uns könnte schicksalhaft die Aufgabe zufallen, Rußland – dieses riesige Reich – geopolitisch zuverlässig in den christlichen Kulturkreis einzubinden. Diese Aufgabe wird jeden Kanzler, der sie erkennt und löst, zu einem bedeutenden Staatsmann machen.


 
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