© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/98  02. Oktober 1998

 
 
Selbstbehauptung
von Michael Wiesberg

Nach den Beiträgen von Dieter Stein (JF 40/98) und Roland Wehl (JF 37/98) zur Debatte "Was ist heute national?" über das, was aus ihrer Sicht heraus "rechts" sein soll, ist es höchste Zeit für eine Klärung des Begriffes "rechts". Erst nach dieser Begriffsklärung ist ein sinnvolles Gespräch über das, was heute national ist, überhaupt möglich. Diese Begriffsklärung haben Dieter Stein und Roland Wehl nicht geleistet, so daß ihre Ausführungen auf einer entsprechend unsicheren Grundlage stehen. Diese Unsicherheit wird noch dadurch vergrößert, daß sie keine Belege für die Charakterisierungen dessen, was sie als rechts verstehen, anführen. Um nur zwei Beispiele herauszunehmen: Welcher "rechte" Parteipolitiker hat in der Vergangenheit von "Menschenmaterial" gesprochen, wie es Dieter Stein behauptet? Wo sind die Belege für den behaupteten "Sozialdarwinismus" der Rechten?

Entgegen der allgemeinen Tendenz, die Links-Rechts-Polarisierung zu zerreden, gibt es sehr wohl untrügliche Kennzeichen, die unauflösbar mit "rechtem Denken" verbunden sind. "Rechtes" Denken wird immer durch ein eher pessimistisches Menschenbild charakterisiert sein, das die Basis für alle weiteren Überlegungen bildet. Dieses Menschenbild ist auch der Grund dafür, daß rechte Politik auf funktionierenden Ordnungsstrukturen insistiert. Nur diese können die Unberechenbarkeiten des "organischen Mängelwesens" Mensch (Arnold Gehlen) einhegen und ein stabiles Gemeinwesen garantieren. Daß in diesem Zusammenhang "das Religiöse" und "das Nationale" eine hervorragende Rolle spielen, ergibt sich von selbst. Sowohl "das Religiöse" als auch "das Nationale" sind ordnungsstiftende Faktoren. Sie verbürgen Ordnungsmaßstäbe, die für die Stabilität eines gemeinwesens unverzichtbar sind. Darüber hinaus stellen sie das Individuum in einen größeren Rahmen, was insbesondere in den ich-orientierten Gesellschaften der westlichen Hemisphäre von eminenter Bedeutung ist. Diese Sichtweise ist die unüberbrückbare Trennlinie zum anthropozentrischen "liberalen" oder "linken" Weltbild, das von der natürlichen Güte des Menschen ausgeht und die Schlechtigkeit immer in den gesellschaftlichen Verhältnissen suchen wird. Das heißt in der Konsequenz, daß sowohl "Linke" als auch "Liberale" bestrebt sind, die vorgeblich "inhumanen Strukturen" der "Gesellschaft" zu verändern. Sie setzen damit jede bestehende Gesellschaft unter einen massiven Veränderungsdruck. Rechte und Konservative hingegen sind überzeugt, daß die "menschenwürdige" Gesellschaft, die die Linken und Liberalen meinen, eine Chimäre ist, die insbesondere in Deutschland mit Denkschablonen und -verboten erkauft werden soll. Nicht, daß die linke bzw. liberale Weltsicht mindestens seit 1968 die in Deutschland dominierende ist, ist hier das Problem, sondern daß ihr heute keinerlei gesellschaftlich akzeptierte Gegenposition mehr gegenübersteht. Die Folge: Die gesellschaftlichen Entropie-Erscheinungen, verstanden als die Auflösung von Ordnung und Tradition im weitesten Sinne, schreiten immer rascher voran.

Daß dem in Deutschland so ist, ist eine der Folgen der reeducation. Diese war ein bewußt herbeigeführter Bruch mit den nationalen Traditionen des deutschen Volkes. Vollkommen zu Recht hat der große Anthropologe Arnold Gehlen einen derartigen Bruch als "geistigen Völkermord" bezeichnet. Folgt man der Definition Herders, daß die Nation das Produkt einer langen gemeinsamen Geschichte sei, dann kann es vor diesem Hintergrund in Deutschland nur noch Rudimente des Nationalen geben. Aber auch diese Rudimentestehen im Schlagschatten der unentwegt beschworenen Erinnerung an den Holocaust, die, zur Staatsräson erklärt, nichts anderes als Bußübungen ad infinitum zuläßt. So wird das Nationale – anstatt ein Gemeinschaftsbewußtsein zu stiften – zum Fluch. Es ist eben bezeichnend, daß diejenigen, die sich heute um eine positive nationale Identität bemühen, Dissidenten im eigenen Lande sind.

Dieter Stein behauptet nun, daß die US-amerikanischen Umerzieher nur vom Sockel stießen, was das NS-System bereits erodiert hatte. Roland Wehl hält die Umerziehung schlicht für ein "naives pädagogisches Programm". Beide Einschätzungen der reeducation stellen eine Verharmlosung dieses Phänomens dar. Die Heidelberger Sozialwissenschaftlerin Uta Gebhardt kennzeichnete die reeducation als einen umfassenden pädagogischen Versuch, der nicht mehr und nicht weniger zum Ziel hatte, als den "deutschen Nationalcharakter" zu verändern. Um zu verstehen, was hier in Bewegung gesetzt wurde, ist es wichtig zu wissen, daß die reeducation ursprünglich eine psychiatrische Maßnahme für geistig verwirrte Menschen bedeutete. Mit anderen Worten: Die US-amerikanischen Sozialwissenschaftler und Psychoanalytiker, die am Konzept der "Umerziehung der Deutschen" arbeiteten, gingen von der Prämisse aus, daß das deutsche Volk in Gänze geistig verwirrt sei. Deshalb ging es den Umerziehern auch nicht nur darum, den Nationalsozialismus "auszurotten", sondern auch um das, was sie als "grundlegende deutsche Verhaltensweisen und Institutionen" bezeichneten. Gemeint waren damit unter anderem Autoritätsgläubigkeit, Militarismus, Junkertum und Rassismus. Die Umerzieher haben also nicht zwischen den NS-Verbrechern und der überwältigenden Masse der der Deutschen, die den NS-Führern im guten Glauben folgten, unterschieden. Sie haben auch nicht zwischen erhaltenswerten und problematischen deutschen Traditionen unterschieden, so daß ihr Programm der reeducation durchaus als geistiger Imperialismus angesprochen werden kann.

Wenn Roland Wehl nun (frei nach Horkheimer) meint, daß von der reeducation nur reden dürfe, wer gleichzeitig auch von den Opfern des Nationalsozialismus rede, dann zeigt er, daß er selbst ein gelehriger Schüler der reeducation ist. Denn der ständige Rekurs auf die Opfer und die "deutsche Schuld" hat sich inzwischen verselbständigt und verhindert so den notwendigen Wiedereintritt Deutschlands in die Sphäre des Politischen. Diese Sphäre meint ja im Kern nichts anderes als das Artikulieren und Durchsetzen nationaler Interessen, meint den Willen zur Selbstbehauptung. Gelingt dieser Wiedereintritt nicht – und hier folge ich der Logik Carl Schmitts –, wird das deutsche Volk voraussichtlich als geschichtlich und kulturell geprägte Gemeinschaft von der Bühne der Geschichte verschwinden.

Die totale Niederlage von 1945 hat im Zuge der reeducation zur allmählichen Auflösung des Ordnungs- und Orientierungsrahmens der Nation als Gemeinschaft der Toten, Lebenden und Zukünftigen geführt. Die Instrumente für den Prozeß der reeducation lieferten die Sozialwissenschaften, die – mit einem bestimmten Bild von einer rationalen und gerechten Gesellschaft vor Augen – die "Machbarkeit des Menschen" als Programm ausgerufen haben. Der Mensch aber, den die Sozialwissenschaften meinen, ist ein Abstraktum. Er hat kein Bewußtsein einer gemeinsamen Geschichte und Kultur. Statt dessen ist er "Rollenträger", der, wenn er nicht "rational" im Sinne der Sozialwissenschaften reagiert, "reaktionär", "fremdenfeindlich" oder dergleichen mehr ist.

Wenn dieser Prozeß der geistigen Entortung, so wie er bis jetzt verlaufen ist, zu einem Ende gekommen sein wird, dann werden die Deutschen nicht mehr als Volk angesprochen werden können. Der Akzentwechsel vom Volk hin zur Gesellschaft ist in diesem Zusammenhang bezeichnend. Das Volk ist eine geschichtlich gewachsene Gemeinschaft. Die Gesellschaft hingegen ist eine Ansammlung beliebiger Individuen, die aus aller Herren Länder stammen können. Schaut man sich insbesondere in westdeutschen Großstädten um, dann wird einem sehr schnell deutlich, daß die Deutschen auf dem besten Weg sind, sich als Volk aufzulösen. Eine Fahrt mit der S-Bahn reicht in der Regel aus, umzu erkennen, daß die neue "Heimat" der Deutschen "Babylon" heißt.

Wenn Dieter Stein nun nach den Integrationskonzepten der "Rechten" für die Ausländer fragt, dann ist bereits die Fragestellung falsch. Die Ausländer, die sich trotz der beispiellosen Sozialleistungen, die der deutsche Staat ihnen bietet, in Deutschland nicht integrieren können, wollen es auch nicht. Auffällig wird dies insbesondere bei den in Deutschland lebenden Türken, die nicht bereit sind, irgendwelche Abstriche an ihrer islamischen Identität zu machen. Das Kopftuch und die zunehmende Ghetto-Bildung sind in diesem Zusammenhang nur die auffälligsten Kennzeichen einer bewußten Abgrenzung von der deutschen Gesellschaft. Diese Ghetto-Bildung ist darüber hinaus Indiz für eine voranschreitende Ethnisierung Deutschlands. Ethnisierung heißt, daß ab einer bestimmten Stufe der Zuwanderung die zu einer bestimmten Ethnie gehörigen Zuwanderer zunehmend in Gebiete ziehen, in denen bereits Landsleute wohnen. Diese Entwicklung, die in Berlin bereits ansatzweise sichtbar ist, muß in Deutschland unter allen Umständen vermieden werden. Deshalb steht aus rechter Sicht nicht die Frage der Integration von Ausländern im Vordergrund, sondern die Frage, wie diejenigen Ausländer, die sich in Deutschland nicht integrieren wollen und hier nur die sozialen Sicherungssysteme belasten, möglichst schnell wieder abgeschoben werden können. Diese Haltung hat nichts mit Sozialdarwinismus zu tun, sondern mit einem überlebensnotwendigen Selbstbehauptungswillen und einer konsequenten Politik im Sinne nationalstaatlicher Orientierung.

Genauso verhält es sich im Hinblick auf die soziale Frage. Rechte Politik insistiert auf dem Nationalstaat, weil nur er jene Solidarität verbürgt, die bisher größere soziale Spannungen vermeiden konnte. Schon im Falle der Finanztransfers nach Mitteldeutschland zeigen sich die Grenzen der Solidarität. Vollends zerstört wird sie freilich, wenn demnächst Deutsche in einer Währungsunion demnächst Solidarität mit Sizilien üben sollen. Diese Überdehnung von Solidarität wird mit dem Ende des Sozialstaats einhergehen. Wenn rechte Politik also am Sozialstaat im Rahmen des Nationalstaats festhält, dann ist sie im hohen Maße sozial. Wer Gegenteiliges behauptet, weiß nicht, wovon er redet.

Von Bernard Willms stammt schließlich der Satz, daß die Nation den Begriff des Staates voraussetze und von diesem definiert werde. Da in Deutschland der Staat auf jede nationale Orientierung verzichten zu können meint, ist das Nationale in Deutschland heimatlos geworden. Erinnerungen an das Nationale finden sich allenfalls noch bei einigen dissidenten Strömungen, die auf die deutsche Gesellschaft bestenfalls anachronistisch wirken. Es ist nur schwer abzuschätzen, ob dieser Zustand jemals wieder überwunden werden kann. Daß er überwunden werden muß, wenn auch im 21. Jahrhundert noch von einem deutschen Volk die Rede sein soll, ist für die Deutschen am Ende des
20. Jahrhunderts zur Kardinalfrage geworden.


 
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