© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/98  09. Oktober 1998

 
 
Kolumne
Ausgeklammert
von Klaus Motschmann

Das Wahlergebnis vom 27. September ruft ein bedenkenswertes Wort Bert Brechts in Erinnerung: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus; doch wo geht sie hin?" Nicht nur das Wahlerebnis, sondern sehr viel mehr noch der Wahlkampf gestatten zuverlässige Rückschlüsse auf die angestrebten Ziele der ideologisch-politischen Langzeitstrategen in allen maßgebenden Parteien, obwohl sie sich mit sehr allgemeinen, wenig parteispezifischen und weithin austauschbaren Parolen um die Gunst der Wähler bemühten.

Tatsächlich war es ein außerordentlich programmatischer Wahlkampf. Politische Absichten lassen sich bekanntlich nicht allein an dem erkennen, was gesagt wird, sondern auch an dem, was nicht gesagt wird. Man stelle sich vor, in einer Darstellung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems fände sich kein Hinweis auf die Existenz von Konzentrationslagern. Dies wäre gewiß eine programmatische Aussage und Anlaß zu berechtigter Kritik, denn selbstverständlich gehört zu einer seriösen Darstellung im wissenschaftlichen, politischen und publizistischen Sinne eine Berücksichtigung aller wesentlichen Faktoren.

Im Bundestagswahlkampf sind aber wesentliche Probleme bewußt ausgeklammert worden. Wo fand eine Auseinandersetzung mit den Problemen des Asylrechts und der Integration von Auländern statt? Wo ist das Für und Wider der Einführung des Euro und der Abschaffung nationaler Entscheidungskompetenzen im Zuge der Globalisierung und Europäisierung unserer Wirtschaft hinreichend erörtert worden? Wo sind Antworten auf die Fragen nach der Verschuldung der öffentlichen Hand und nach dem Wirrwarr der Rechtschreibreform beantwortet worden? Und wo war auch nur ein Ansatz der Bereitschaft zur Auseinandersetzung um den Skandal der Tötung von jährlich etwa 150.000 ungeborenen Kindern zu erkennen?

Dafür gibt es zunächst rein taktische Gründe. Auf der letzten Etappe des Langen Marsches durch die Institutionen sollten keine Risiken eingegangen werden, um die Position der alten Linken als die der neuen Mitte darstellen zu können. Dafür gibt es aber auch ideologische Gründe. Sie sind in der Einübung eines antifaschistisch-sozialistischen Verfassungs- und Politikverständnisses zu suchen. Es wird bestimmt durch die Theorie und Praxis des "demokratischen Zentralismus" Danach werden alle wesentlichen politischen Entscheidungen von den jeweiligen Zentralen der Parteien und Verbände ohne nennenswerte Mitwirkung der "Basis" getroffen – und zwar möglichst unumkehrbar. So ist mit dieser Wahl eine Wende eingeleitet worden; sie ist ganz gewiß nicht unumkehrbar; aber ganz gewiß wird sie zunächst einmal sehr viel umkehren.


 
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