© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/98  09. Oktober 1998

 
 
Patriotismus: Ferdinand Fürst von Bismarck über die Bedeutung des Nationalen
"Gelebt wird gegen alle Autorität"
von Peter Krause

Über Otto von Bismarck gibt es hervorragende Monographien, in diesem Jahr kommen wieder zahlreiche Bücher zum ersten Reichskanzler auf den Markt. Verstehen Sie Ihr soeben erschienendes Buch als primär historisch?

Bismarck: Nein, ich habe ein Buch geschrieben über die heutigen Zustände in Deutschland, über das, was man verändern und verbessern kann und sollte. Ich berufe mich nur insoweit auf meinen Urgroßvater und seine Vorstellung von Politik, als Geschichte auch für das Verständnis der Gegenwart wichtig ist, und als das Geschichtsbild, das heute von der Bismarckzeit und Bismarck selber gezeichnet wird, auch und gerade in den Schulen und Universitäten, einer Revision bedarf. Bismarck war kein kriegslüsterner Machiavellist, der nur an sich und seine Interessen gedacht hat. Er hat sich berufen gefühlt, die nationale Herausforderung der Reichsgründung anzunehmen, hat sich dabei selbst von einem Urpreußen zu einem nationalbewußten Deutschen entwickelt. Er war ein Patriot. Er hat ein Volk in einem Reich vereinigt, das zwei Weltkriege, Inflation, Nationalsozialismus und Teilung überstanden hat.

War das Reich von 1871 Erfüllung deutscher Nationalgeschichte oder Anfang eines Irrweges?


Bismarck: Die These, Bismarck sei der historische Wegbereiter Hilters, ist falsch. Der erste Reichskanzler war kein Imperialist. Die aggressive deutsche Außenpolitik setzte erst 1890 ein. Die Zäsur in der Außenpolitik zwischen dem Bismarck- und dem Kaiserreich ist eindeutig, ich nenne nur die Stichworte Kolonialpolitik und Flottenbau. Der Zeitgeist hatte sich gewandelt, in Deutschland kam ein imperiales Denken auf. Bismarckscher Realismus zählte nicht mehr viel. Es sollte Weltpolitik gemacht werden – und im Gegenzug begann die verhängnisvolle Einkreisung. Der Weltkrieg wurde gewollt. Die imperiale Politik der Nationalsozialisten stand erst recht nicht in preußischer Tradition: Bismarck hatte das Reich als saturiert bezeichnet. Auch das innenpolitische Konzept Hitlers und der Rassenwahn stehen nicht in der Tradition Bismarcks oder Preußens.

Die imperiale Politik des Kaiserreiches ab 1890 entsprach damaliger europäischer Politik; auch könnte man sagen, Bismarck war mit der nationalen Einigung viel zu beschäftigt, um schon aggressive Außenpolitik zu betreiben. Gab es überhaupt die Chance, sich über 1890 außenpolitisch als saturiert zu betrachten?

Bismarck: Max Weber hat 1895 gesagt: Es hätte keinen Sinn gehabt, das Reich zu gründen, wenn man nicht nach Höherem streben wolle. Deutschlands Politik ab 1890 war, gerade weil es eine wirtschaftlich aufstrebende Nation war und das Mißtrauen der Großmächte und Nachbarn erregte, sehr ungeschickt. Hätte sich Deutschland auf die Nutzung seines wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Potentials beschränken können, wäre es dennoch zur europäischen Führungsmacht aufgestiegen. Aber die balance of power wurde aufgegeben.

Sie analysieren in Ihrem Buch die Außenpolitik des heutigen Deutschland. Sehen Sie die Westbindung als eine Fortsetzung Bismarckscher Außenplitik oder als Abkehr vom souveränen Nationalstaat?

Bismarck: Die militärischen Verhältnisse sind heute ganz andere als vor hundert Jahren. Die modernen Massenvernichtungswaffen verlangen ein völlig anderes Sicherheitsdenken, eine andere Geopolitik als damals. Eine militärische Souveränität gibt es heute nicht mehr. Zum westlichen Verteidigungsbündnis gab und gibt es keine Alternative. Rußland ist zwar nach der Phase des sowjetischen Imperialismus kleiner als zur Zarenzeit, aber ungefährlich ist die Lage nicht. Erste Aufgabe der jetzigen Außenpolitik muß sein, den Osten in ein Sicherheitskonzept einzubinden, zweitens muß ein vereintes Europa geschaffen werden, das sowohl Asien wirtschaftlich Paroli bieten als auch gegenüber den USA eine größere Souveränität gewinnen kann.

Die Zeiten nationaler Außenpolitik sind also vorbei?

Bismarck: Es gibt keine vollständige Souveränität der Nationalstaaten mehr, aber es gibt bestimmte Souveränitäten, die man nicht über Bord werfen sollte. Die NATO sollte zwar als Sicherheitsbündnis unbedingt beibehalten und ausgebaut werden, denn die Welt ist nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes nicht sicherer geworden. Aber das europäische Einigungswerk, so wie es jetzt politisch gedacht und vor allem vollzogen wird, ist ein Irrtum.

Inwiefern ein Irrtum? Kritisieren Sie die Europäische Union überhaupt oder nur die Stufenfolge: zuerst monetäre, dann politische Einheit?

Bismarck: Die Währungsunion ist ein verfrühter, vielleicht sogar ein falscher Schritt. Wir werden gegenwärtig auf undemokratische Weise in eine Gemeinschaft hineinmanövriert, die zur Aufgabe unserer Souveränität führt, und zwar auf eine Weise, die wir als Nationalstaat dann nicht mehr beeinflussen können. Unsere Währung bedeutet mehr als nur Geld; sie ist eng mit unserem Sozial- und Wirtschaftssystem verbunden. Der deutsche Sozialstaat, der ja in der Tradition des preußischen Obrigkeitsstaates steht, wird sich anpassen müssen. Das Niveau wird niedriger sein als jetzt, und zwar auch ohne die Veränderungen, die ohnehin notwendig sind. Der deutsche Staat wird auf dem Altar eines Europa geopfert, das politisch nicht durchkonstruiert ist. Es fehlen die politischen Strukturen, um eine gemeinsame europäische Politik zu machen, die den Unterschieden der einzelnen Nationen Rechnung trägt. Europa wird quasi per Dekret Brüsseler Beamter vereinigt.

Gibt es angesichts der ökonomischen Dynamik, die eine Schaffung von großen Wirtschaftsräumen fordert, noch eine reale Chance für nationale Politik? Wie sieht Ihr politisches Modell im liberalen Europa aus?

Bismarck: Die Lösung kann nur darin liegen, ein Europa der Vaterländer zu schaffen. Doch trotz innerer Unterschiedlichkeit muß es gelingen, nach außen mit einer Stimme zu sprechen. Diese europäischen Strukturen müssen aber demokratisch kontrollierbar sein. Ich sehe das ökonomische Problem gegenwärtig eher in der Konkurrenz der USA und Asiens, als der Lohnbilligländer. Vor Europa steht also einerseits das Problem Abschottung: wir dürfen keinen völlig freien Warenverkehr zulassen. Andererseits müssen wir nach Erweiterung streben und ost- und mitteleuropäische Staaten aufnehmen. Und Rußland muß die Bindung an Europa behalten.

In einer Ankündigung Ihres Buches ist von "Traumatisierungen" die Rede, die die deutsche Nation in der Vergangenheit erlitten habe. Was meinen Sie damit?

Bismarck: Das erste deutsche Trauma besteht in der fehlenden staatlichen Einheit, in der inneren Zerrissenheit: politisch und konfessionell. Es wurde schrecklich bewußt schon im Dreißigjährigen Krieg. Das zweite Trauma besteht im Zusammenbruch 1918 und seinen Folgen bis hin zum Nationalsozialismus. Aus diesen traumatischen Erfahrungen hat sich eine Art Komplex entwickelt, der dazu geführt hat, daß die Deutschen seitdem keine selbstverständliche Beziehung mehr haben zu ihrem Staat, zur ihrer Nation, zu ihrer Heimat und zu ihrem vaterländischen Denken. Und nach 1945 stand der wirtschaftliche Aufbau im Vordergrund. Jetzt stehen die Deutschen fern aller nationalen und patriotischen Ideen. Aus einem Überschießen ist heute eine völlige Geringschätzung des Nationalen geworden.

Ihr politisches Konzept baut auf den Nationalstaat. Das gegenwärtige politische Denken in Deutschland zieht aber eher "rationale" Modelle vor. Nation heißt aber Bindung, die nicht vollständig nützlich und rational ist. Ist Ihr Modell nicht unzeitgemäß?

Bismarck: Unseren Kindern wird heute wenig nationales Bewußtsein, wenig Gemeinschaftssinn vermittelt. Im Vordergund stehen Werte der Selbstverwirklichung. Die geistige Revolte der 68er hat in diesem Sinne viel bewirkt. Persönliches Glück steht im Vordergrund. Die sogenannten Sekundärtugenden wie Disziplin, Verantwortungsbewußtsein, Treue zählen heute kaum noch etwas. Gelebt wird gegen alle Autorität, auch gegen den eigenen Staat. Ich sehe darin eine gefährliche Entwicklung für das Gemeinwesen der Deutschen. Aber ich habe die Hoffnung, daß ein Bewußtsein für das politische Ganze, und dafür steht die kulturelle Einheit Nation, wieder wachsen wird. Das ist nichts Reaktionäres oder gar Faschistisches, sondern politisch notwendig. Nationalbewußtsein kann Stolz heißen, es muß keineswegs Überheblichkeit bedeuten. Die Weckung eines modernen nationalen Selbstbewußtseins setzt aber ein neues Denken bei Politikern, Lehrern, Journalisten, bei allen, die öffentliches Bewußtsein bestimmen, voraus.

Wie setzen wir Deutschland wieder ökonomisch "in den Sattel"?

Bismarck: Wir brauchen eine Wirtschaftspolitik, die unseren Mittelstand stärkt. Der Sozialstaat wird vom Mittelstand getragen. International operierende Konzerne kennen keine Verantwortung für eine Nation. Mit ihnen ist kein Staat zu machen, erst recht kein Wohlfahrtsstaat.

 

Ferdinand Fürst von Bismarck
wurde 1930 in London geboren. Nach dem Besuch von Schulen in Rom und Stockholm studierte er Volkswirtschaft und Jura in Köln und Freiburg. Von 1961 bis 1967 war er Verwaltungs- und Hauptverwaltungsrat bei der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in Brüssel, seither arbeitet er als Anwalt in Hamburg. Der Urenkel des "Eisernen Kanzlers" und Reichsgründers Otto von Bismarck lebt in Friedrichsruh bei Hamburg. Im Langen Müller Verlag, München, ist soeben sein Buch "Anmerkungen eines Patrioten" erschienen.


 
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