© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/98  09. Oktober 1998

 
 
Hamburg: Mißachtung eines Volksentscheids
Bürgerwille ignoriert
JF

Der Leiter des Wissenschaftlichen Instituts für Direkte Demokratie in Zürich, Andreas Gross, hat die Bewertung des Hamburger Volksentscheids für "Mehr Demokratie" durch die beiden großen Parteien scharf kritisiert. "SPD und CDU planen die krasseste Mißachtung eines Volksentscheids der letzten 20 Jahre in Europa. Kaltschnäuzig wollen sie das eindeutige Votum für den Gesetzentwurf des Volksbegehrens ignorieren", sagte der sozialdemokratische Abgeordnete des Schweizer Nationalrats und Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. "Ist das die neue Art der Politik der SPD?", fragt Gross.

Für das Volksbegehren zur Erweiterung des Mitspracherechts in der Landespolitik hatte vor mehr als einer Woche eine Mehrheit von 74 Prozent gestimmt. Nur 26 Prozent der Bürger der Hansestadt lehnten den Gesetzentwurf ab. Die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit der Stimmen wurde somit erreicht, aber das Zustimmungsquorum von 50 Prozent aller Stimmberechtigten mit 45 Prozent verfehlt. Die Abstimmungsbeteiligung lag mit 66,7 Prozent nur knapp unter den 68,7 Prozent bei den Bürgerschaftswahlen 1997.

SPD und CDU hatten in einer Aktuellen Stunde der Hamburger Bürgerschaft klargemacht, daß sie das weitgehende Mitwirkungsrecht der Bürger weiterhin ablehnen und nicht beschließen wollen. "Ein Schweizer Parlament könnte sich so eine Mißachtung des eindeutigen Bürgerwillens nie leisten", betonte Gross. "Wer dieses Votum nicht versteht, dem ist nicht zu helfen."

Als besonders unfair bezeichnete Gross die Haltung der Bürgerschaft, weil das Volksbegehren das vom Parlament selbst geforderte Zustimmungsquorum von 40 Prozent aller Stimmberechtigten klar erfüllt habe. "Da die Bürgerschaft dieses Quorum als richtig ansieht, muß sie jetzt das Volksbegehren umsetzen", forderte der Schweizer Politiker.

In der Schweiz, den US-Bundesstaaten, Bayern und Hessen hätte das Hamburger Bürgervotum automatisch Gesetzeskraft bekommen. Dort gilt das normale Mehrheitsprinzip. In Deutschland war noch nie ein Volksentscheid mit einer solchen Abstimmungsklausel wie am 27. September in Hamburg erfolgreich. (JF)


 
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