© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/98  09. Oktober 1998

 
 
Neuerscheinung: Karlheinz Weißmann,
"Der Nationale Sozialismus – Ideologie und Bewegung 1890 – 1933"
Warum Hitler ein Betriebsunfall der deutschen Geschichte war

Der Göttinger Historiker Karlheinz Weißmann legte zur Frankfurter Buchmesse im Herbig-Verlag sein neuestes Buch "Der Nationale Sozialismus – Ideologie und Begwegung 1890 – 1933" vor. Es knüpft an seinen im Propyläen-Verlag erschienenen Band "Der Weg in den Abgrund" an und untersucht die Wurzeln der verschiedenen europäischen Strömungen eines "nationalen Sozialismus". Hierbei kommt er zu dem Ergebnis, daß es keineswegs zwingend war, daß diese radikale Ideologie in Deutschland ihren Siegeszug antrat. Die junge freiheit veröffentlicht nachfolgend das Kapitel "Die zweite nationalsozialistische Welle".

 

Anfang des Jahre 1933 hatten die Leitartikler der großen deutschen Zeitungen das Ende des "Hitlerismus" prophezeit. Nach dem Stimmenrückgang der NSDAP bei den letzten Reichstagswahlen und den ersten Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung glaubten viele Beobachter, daß die Nationalsozialisten ihre große Zeit hinter sich hätten, die Strasser-Krise und der Zerfall regionaler SA-Einheiten im Januar 19331 verliehen den Prognosen zusätzliche Glaubwürdigkeit, denenzufolge die Nationalsozialisten auf die Dauer kein Faktor in der deutschen Politik bleiben würden. Hitler war insofern tatsächlich ein "Betriebsunfall" der deutschen Geschichte, als seine Regierungsübernahme keineswegs zwangsläufig war. Es gab eine Menge an Zufällen und Besonderheiten in der personellen Konstellation der Verantwortlichen, die erklären, warum es dazu kommen konnte, aber irgendeine Schicksalhaftigkeit ist nicht zu erkennen. Eine Bedeutung über den Vorgang selbst hinaus gewinnt Hitlers Machtübernahme erst dann, wenn man die Perspektive auf die ganze Zwischenkriegszeit ausweitet und sich klarmacht, daß Hitler eben nicht nur ein deutscher Politiker war, sondern auch die Verkörperung einer historischen Tendenz, die die Zwischenkriegszeit sehr stark bestimmte.

Es genügt nicht, den Blick darauf zu richten, warum die Weimarer Republik zerstört werden konnte, es ist notwendig, sich die Frage vorzulegen, warum sie von dieser Bewegung zerstört werden konnte. Der Erfolg des Nationalsozialismus erklärt sich aus der Demütigung durch den Versailler Vertrag und der Angst vor der "roten Gefahr", aus den Defekten des Parlamentarismus und der Sehnsucht nach dem starken Staat, aus der Abstiegsfurcht des Mittelstandes und der Arbeitslosigkeit, aus dem Charisma Hitlers und der Glaubensbereitschaft der Massen. Der Erfolg des Nationalsozialismus erklärt sich aber vor allem aus dem Angebot einer Parole, die den Ausgleich von Volksgemeinschaft und sozialer Gerechtigkeit verhieß.

Als der amerikanische Soziologe Theodore Abel 1938 seine empirische Studie Why Hitler came to Power veröffentlichte, die auf der Befragung von Mitgliedern der NSDAP beruhte, kam er zu dem Ergebnis, daß der Antisemitismus nur bei einer Minderheit ein ausschlaggebender Faktor für ihren Eintritt in die Partei gewesen war2, daß aber die Hoffnung auf einen Führer und die Idee eines nationalen Sozialismus bei allen eine entscheidende Rolle gespielt hatten: "Die Aktualität der Idee im Blick auf die allgemeinen Bedingungen, begünstigte ihre Aufstieg und führte teilweise zu ihrem Erfolg. Wichtiger aber war, daß Hitler und seine Gefolgschaft die Idee, dadurch daß sie sich zu ihrem Sprachrohr machten, mit einem machtvollen emotionalen Gehalt erfüllten. Was vorher akademische Theorie, der Name eines Diskussionszirkels oder einer Splitterpartei war, wurde zu einem Glauben, fähig in seinen Anhängern eine Glut zu entfachen, die dem Fanatismus nahe kam. Sie wurde zu einer Sache, für die Menschen bereit wären, ihr Leben zu opfern."3 Daß die Synthese von Sozialismus und Nation unter dem Eindruck der Großen Krise so vielen Zeitgenossen als "eine sehr verständige Kombination"4 erschien, ermöglichte Hitler seine politischen Erfolge und später die Festigung seiner Macht. Daß er unter dem Deckmantel einer populären Idee ein destruktives Programm verfolgte, war nur wenigen deutlich und nur einer verschwindenden Minderheit im ganzen Umfang erkennbar.

In Deutschland setzte Hitler ein denkbar radikales Konzept von nationalem Sozialismus durch, aber der 30. Januar 1933 sollte nicht nur für Deutschland, sondern für Europa und schließlich für die Welt Bedeutung gewinnen. Der Vorgang stellte den Ausgangspunkt einer neuen national-sozialistischen Welle dar, die ihren Anfang in der Zeit der Wirtschaftskrise genommen hatte und bis in den Zweiten Weltkrieg und die folgende Nachkriegszeit andauern sollte. Das allein unterschied schon die historische Bedeutung des 30. Januar 1933 von der des 28. Oktober 1922. Die Regierungsübernahme Mussolinis konnte aufgrund der geringeren Machtstellung Italiens niemals Auswirkungen haben, die der der Regierungsübernahme Hitlers vergleichbar waren. Aber schon das faschistische Italien war ein politisches System, das sich von den herkömmlichen unterschied und das man so wenig wie das nationalsozialistische Deutschland jenen Militärdiktaturen oder autoritären Staaten traditionellen Zuschnitts subsummieren konnte, die die Krise des Parlamentarismus in der ersten Hälfte der zwanziger und dann wieder zu Beginn der dreißiger Jahre in zahlreichen europäischen Staaten entstehen ließ.

Die "faschistische Revolution" fand auf dem Höhepunkt der ersten national-sozialistischen Welle der Zwischenkriegszeit statt, und obwohl es niemals zur Entstehung einer "faschistischen Internationale" gekommen ist und Mussolini in der Frage schwankte, ob der Faschismus ein Exportartikel sein könnte, gab es nach dem "Marsch auf Rom" eine Reihe von kleineren Bewegungen, die sich selbst als faschistisch bezeichneten oder mit Gründen so bezeichnet wurden. Aber weder der in den zwanziger Jahren entstandenen rumänischen "Legion Erzengel Michael" des Corneliu Z. Codreanu noch der finnischen "Lappo-Bewegung" unter dem ehemaligen Generalstabschefs Kurt Martti Walenius oder den österreichischen "Heimwehren" gelang eine "Machtergreifung" nach Mussolinis Modell, ganz zu schweigen von so peripheren Gruppierungen wie den British Fascisti oder dem Faisceau des Franzosen Georges Valois. Soweit es sich bei diesen Gruppierungen nicht einfach um Kopien des italienischen Modells handelte, differierten sie ideologisch sehr stark und ließen Übereinstimmung im Grunde nur in bezug auf ihren politischen Stil, die Militanz und die gemeinsamen Feinde – Marxismus und Liberalismus – erkennen. Und wenn Hitler im Oktober 1930 davon sprach, daß sich die kommunistische Gefahr allein durch die Beseitigung der parlamentarischen Demokratie und die "Faschistisierung der europäischen Staaten"5 erreichen lasse, so war das in erster Linie eine Propagandaformel. Die wirtschaftliche Depression hatte zwar allen möglichen im weitesten Sinn faschistischen Strömungen Auftrieb gegeben, aber zu wirklich ausschlaggebenden Faktoren wurden sie in keinem europäischen Staat. Erst der Erfolg der Nationalsozialisten in Deutschland sollte das grundlegend ändern.

Daß der Nationalsozialismus eine erhebliche Anziehungskraft auch außerhalb der Reichsgrenzen entwickelte, lag dort sowenig wie in Deutschland selbst an der Kenntnis oder der Zustimmung zu seinem destruktiven Programm. Den ausländischen Bewunderern erschien das nach 1933 errichtete NS-Regime vor allem moderner als der Faschismus in Italien, weniger belastet durch die Überreste der bürgerlichen Ordnung, effizienter, auch sozialer, tatsächlich gleichweit von Kapitalismus wie Kommunismus entfernt. Nationalsozialistische Parteien entstanden in Holland unter der Führung von Anton Adriaan Mussert, in Flandern unter Staff de Clercq, in Norwegen unter Vidkun Quisling, in Rumänien unter Horia Sima und in Ungarn unter Ferenc Szálasi, auch die Falange des Spanier José Antonio Primo de Rivera und die aus dem irisch-republikanischen Nationalismus hervorgegangenen Blueshirts Patrick O’Duffys gehören in diesen Zusammenhang, während die belgischen Rexisten unter der Führung Léon Degrelles doch immer zu deutlich katholisch und am italienischen Vorbild orientiert blieben, um sie hier ganz einordnen zu können.

Keine dieser Bewegungen war fähig, aus eigener Kraft an die Macht zu kommen, nur in Lateinamerika entstanden mindestens zwei Regime, die man den National-Sozialismen der Zwischenkriegszeit zurechnen muß, obwohl sich die gesellschaftlichen Grundlagen dort von den europäischen deutlich unterschieden. Im einen Fall handelte es sich um den Estado Novo (1930–1945) des brasilianischen Präsidenten Getulio Vargas. Vargas betrieb eine auf die Massen und das Militär gestützte Politik, die sich gegen den Einfluß der USA und die ökonomische Macht des großen Bürgertums richtete. Vargas Anhängerschaft, die (später von ihm selbst aufgelöste) Bewegung der Integralisten, ähnelte in ihrer Programmatik den "Hemdlosen" des argentinischen Präsidenten Juan Domingo Perón, der sich wenigstens in der Anfangsphase seiner Regierung (1943–1955) offen auf Mussolini und Hitler berief und seinen "Faschismus der Unterklasse"6 gegen den Widerstand der alten Eliten durchsetzte.

Die sehr deutliche Linkstendenz dieser beiden Systeme7 war für den National-Sozialismus der dreißiger Jahre keineswegs ungewöhnlich – es gab noch einmal eine ganze Reihe von Sozialisten, die dem Weg Mussolinis folgten. Einer von ihnen war der Brite Oswald Mosley. Mosley hatte seinen politischen Ausgangspunkt zwar bei den Konservativen genommen, aber sein erstes Mandat gewann er 1918 unter der Parole des "sozialistischen Imperialismus"8. Die formelle Ähnlichkeit mit den Ideen der Fabier der Vorkriegszeit war kein Zufall, und als Mosley aus Verärgerung über den Attentismus der alten Parteien 1924 von den Tories zur Labour Party übertrat, entwickelte er ein Konzept, bestehend aus einer Verbindung von Empire-Autarkie, Planwirtschaft und Beschäftigungsprogrammen, im Kern "echt national-sozialistische Gedankengänge"9. 1929 in das Kabinett aufgenommen, legte er im Januar 1930 den übrigen Regierungsmitgliedern ein Manifest vor, mit dem er noch einmal seine Vorstellungen konkretisierte. Als er auf Ablehnung traf und sich auch auf dem Parteitag der Labour Party im Oktober 1931 nicht durchsetzen konnte, verließ er die Partei und gründete die kurzlebige New Party. Darf man seinen Lebenserinnerungen trauen, dann wurde Mosley zu diesem Schritt durch Shaw inspiriert, mit dem ihn eine persönliche Freundschaft verband, und der ihn auch in bezug auf seinen Elitismus und die nietzscheanisch inspirierte Vorstellung von der Bedeutung großer Männer beeinflußt hatte10. Erst nachdem Mosley erkennen mußte, daß seine New Party nicht in der Lage sein würde, die Herrschaft der old gang zu beseitigen, orientierte er sich zunehmend am Vorbild Mussolinis und Hitlers. Im Oktober 1932 gründete er die British Union of Fas-cists, die – trotz des Namens – eher mit dem nationalsozialistischen Deutschland sympathisierte und nach einigem Zögern auch den Antisemitismus in ihr Programm übernahm. Die blackshirts waren in ihrer ersten Phase keineswegs eine politische Randerscheinung. Ihre Mitgliederzahl stieg bis 1935 sprunghaft an, sie verfügten über erhebliche finanzielle Unterstützung, und einer der mächtigsten Presseunternehmer des Landes, Lord Rothermere, verfolgte Mosleys Weg vorübergehend mit offener Sympathie. Die schließliche Erfolglosigkeit von Mosleys nationalsozialistischem Konzept war nicht nur auf das Befremden zurückzuführen, das die meisten Engländer dem faschistischen Stil entgegenbrachten, sondern auch auf die Stärke der konservativen Regierung, die seit 1931 das Land beherrschte und die allmähliche Erholung der Wirtschaft für sich nutzen konnte.

Ganz anders als in Großbritannien war die politische Situation in Frankreich, das sich seit dem Beginn der dreißiger Jahre in einer permanenten Krise befand. Dort folgten der ehemalige "Kronprinz" der Kommunistischen Partei, Jacques Doriot, und der frühere Sekretär der sozialistischen Parlamentsfraktion, Marcel Déat, dem Beispiel Mussolinis. Doriot hatte ursprünglich aus Enttäuschung über die mangelnde Bereitschaft des PCF, ein Bündnis mit den Parteien der gemäßigten Linken und bürgerlichen Mitte gegen den "Faschismus" zu bilden, die Partei verlassen und sich für seinen 1936 gegründeten Parti Populaire Française (PPF) die Unterstützung eines Teils der französischen Arbeiterschaft gesichert. Ausgerechnet unter dem Eindruck der Verwirklichung seiner früheren Idee in Gestalt der "Volksfront" wandelten sich Doriots Vorstellungen gründlich. Er kam zu dem Schluß, daß die Republik keinesfalls überleben werde und Frankreich einer "nationalen und sozialen Revolution"11 bedürfe, um es wieder auf die Grundlagen von 1789 zurückzuführen. Obwohl Doriot dauernd vor der Gefahr einer deutschen Aggression warnte, lobte er das NS-Regime in bezug auf seine Arbeitsmarktpolitik und den Autarkiegedanken und organisierte auch seinen PPF immer deutlicher als Führerpartei mit uniformierter Anhängerschaft, die das Vorbild nicht leugnen konnte.

Im Hinblick auf die Grundvorstellungen wies Doriots Ideologie erhebliche Übereinstimmung mit derjenigen Déats auf. Auch Déat hatte mit anderen Abgeordneten die Fraktion der SFIO verlassen, weil er die Zögerlichkeit der Parteiführung mißbilligte. Seine dann als "Neo-Sozialisten" bezeichneten Anhänger wurden sehr rasch verdächtigt, "Faschisten" zu sein, obwohl es dafür anfangs keinen Grund gab. Allerdings vertraten die néos eine Idee des Sozialismus, die sich deutlich von der der übrigen Linken unterschied, insofern sie die Trias "Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit" durch eine ganz andere – "Ordnung – Nation – Autorität" – ersetzen wollten, und sie betrachteten den "Faschismus" nicht als Handlanger von Reaktion und Kapitalismus, sondern als eine zwangsläufige Reaktion auf die Dekadenz des liberalen Systems: "Man macht dem Faschismus den Prozeß, aber der Prozeß ist ungerecht, da die Faschismen überall aus der Krankheit der Demokratien geboren wurden."12

Die Vorstellungen Déats von einem "Neo-Sozialismus" waren sehr stark durch die Arbeiten des Führers der belgischen Sozialisten, Hendrik de Man, beeinflußt, der seit der Mitte der zwanziger Jahre die Notwendigkeit der Selbstüberwindung des Reformismus in der Arbeiterbewegung propagiert hatte, aber gleichzeitig jede Orientierung am Bolschewismus für den "europäischen Sozialismus" ablehnte. De Man forderte die Aufgabe eines nur noch deklamatorischen Internationalismus und die Konzentration auf die "Sozialisierung in einem Land"13. Dabei müsse ein Wirtschaftsplan "als Ausdruck und Sinnbild der neuen Phase der sozialistischen Aktion"14 die konkreten Maßnahmen, die für die Umwälzung notwendig seien, zusammenfassen. Der Plan sollte die Überführung der dafür tauglichen Industriebetriebe in Gemeinbesitz vorbereiten; von einer vollständigen Verstaatlichung wollte de Man allerdings nichts wissen, sein "Planismus" ging ganz bewußt davon aus, daß der Fortbestand der freien Wirtschaft in den Bereichen notwendig sei, die noch nicht durch monopolartige Strukturen bestimmt würden.

De Mans Vorstellungen hatten große Ähnlichkeit mit anderen planwirtschaftlichen Konzepten, die in den dreißiger Jahren nach der Abkehr von der Austeritätspolitik in den Industrieländern verwirklicht wurden. Meistens handelte es sich um eine Verbindung keynesianischer Modelle mit einer moderaten Autarkie, wie sie die Vereinigten Staaten unter Einbeziehung Lateinamerikas, Großbritannien und Frankreich unter Einbeziehung ihrer Imperien betrieben. Allerdings stand de Man mit seiner Auffassung, daß der Planismus zugleich einer neuen Bindung der Massen an die Nationalstaaten dienen müsse, in objektiver Nähe zu Ideen, die man als national-sozialistisch bezeichnen konnte, und deren Existenz deutlich macht, daß die Bewegung und das Regime Hitlers sowie dessen zahlreiche erfolglose Nachahmer keine periphere historische Erscheinung waren, sondern eine objektive Tendenz der Zeit zum Ausdruck brachten. Die eigentümliche Ambivalenz de Mans kam auch darin zum Ausdruck, daß er, dessen Bücher 1933 in Deutschland beschlagnahmt und öffentlich verbrannt worden waren, am 28. Juni 1940, als die deutschen Truppen seine belgische Heimat besetzten, ein Manifest an das Proletariat des Landes richtete, in dem es unter anderem hieß: "Für die arbeitenden Klassen und den Sozialismus ist dieser Zusammenbruch einer morsch gewordenen Welt kein Unglück, sondern eine Befreiung. Trotz allem, was wir an Niederlagen, Schmerzen und Enttäuschungen erlitten haben, ist die Bahn frei für die Befriedung Europas und die soziale Gerechtigkeit."15 De Man betrachtete den Kollaps des parlamentarischen Systems und die Flucht des belgischen Großbürgertums als eine von außen erzwungene Revolution. Er lehnte zwar – anders als Doriot und Déat – die Übernahme des deutschen Modells für sein Land ab, vertrat aber wie sie die Meinung, daß das militärische Desaster ihrer Länder eine "revolutionäre Situation" bedeute, in der es ihnen endlich möglich sein würde, den "Volksstaat" des 20. Jahrhunderts zu schaffen. Tatsächlich wurden die einrückenden deutschen Soldaten in den Arbeitervorstädten von Brüssel und Paris freundlicher aufgenommen als in den bürgerlichen Vierteln, nicht zu vergessen, daß ein erheblicher Teil der gewerkschaftlichen Linken in Belgien und Frankreich zu den Trägern der collaboration mit der Besatzungsmacht zählen sollte16.

Aber die Erwartungen von de Man, Doriot und Déat wurden ebenso enttäuscht wie die der übrigen Führer kleinerer und größerer nationalsozialistischer Parteien, die nach der Besetzung ihrer Heimatländer alle Hoffnung auf eine Zusammenarbeit mit den Deutschen setzten. Sie wollten die Kollaboration nicht auf die erzwungene Zusammenarbeit mit dem siegreichen Gegner beschränken, sondern die Errichtung eines völlig neuen national-sozialistischen Staatenblocks unter deutscher Hegemonie herbeiführen. Tatsächlich schien es in der kurzen Zeit zwischen der Niederlage Englands und Frankreichs im Mai 1940 und dem Beginn des Feldzugs gegen die Sowjetunion im Juni 1941 vorstellbar, daß der Nationalsozialismus zu einer kontinentaleuropäischen Erscheinung hätte werden können: autoritär und kriegerisch, nationalistisch und sozial, antikommunistisch, antikapitalistisch, antisemitisch. So schwierig sich aber schon die Aufrechterhaltung einer so spannungsreichen Einheit gestalten mußte, es war an ihre Verwirklichung allein deshalb nicht zu denken, weil Hitler – angesichts seiner darwinistischen Vorstellungen folgerichtig – gar nicht an der Übertragung des deutschen Systems auf andere Staaten interessiert war, die sich dann jener Kraftquellen hätten bedienen können, die er allein den Deutschen vorbehalten wollte. Im Gegenteil zog er es vor, mit bürgerlichen oder offen reaktionären Regierungen zu kooperieren, von denen er größere Fügsamkeit erwartete. Auch als er unter dem Eindruck der ersten Rückschläge in Rußland bereit schien, Zugeständnisse an die von Deutschland besetzten Völker zu machen, hatte das nur taktische Gründe. Seine eklatante Unfähigkeit, einen tragfähigen außenpolitischen Ansatz zu entwickeln, machten derartige Vorstellungen sofort wieder zunichte.

Was Hitler in einer Rede vom 8. November 1940 erklärt hatte – "Jeder Soldat weiß es und muß es wissen, daß die Armeen, die heute unter unserem Banner marschieren, die Revolutionsarmeen des Dritten Reiches sind"17 –, blieb nur Rhetorik, da es kein Konzept gab, das den Nationalsozialismus tatsächlich zur ideologischen Achse eines "Neuen Europa" hätte machen können. Zu einem Zeitpunkt, als der Untergang des NS-Regimes schon unabwendbar geworden war, im Juli 1944, schrieb einer der entschiedensten Parteigänger Hitlers, der französische Schriftsteller Pierre Drieu la Rochelle, das Experiment eines "neuen Europa" sei daran gescheitert, daß sich "der revolutionäre Elan des Nationalsozialismus" als zu schwach erwiesen habe, der Kleinbürger Hitler sei unfähig gewesen, die notwendige "sozialistische Revolution in Europa"18 zu realisieren, was dazu geführt habe, daß nunmehr Angelsachsen und Russen den Kontinent unter sich aufteilen könnten. Allein die Bereitschaft, wie Stalin zu handeln und eine vollständige gesellschaftliche Umwälzung herbeizuführen, hätte diese Entwicklung aufhalten können. Was Drieu la Rochelle nicht wissen konnte, war, daß Hitler zu diesem Zeitpunkt längst zu ähnlichen Schlüssen gekommen war. Bereits in einem Brief an Mussolini vom 8. März 1940 hatte er angemerkt, daß "Rußland … seit dem endgültigen Sieg Stalins ohne Zweifel eine Wandlung des bolschewistischen Prinzips in Richtung auf eine nationale russische Lebensform"19 erlebe. Die Maßnahmen, durch die Stalin nach dem Beginn des Krieges zwischen Deutschland und der UdSSR, den "Sowjetpatriotismus" immer stärker mit Elementen der russischen nationalistischen Tradition anreicherte, nötigten Hitler ebenso Respekt ab wie die Härte, mit der sein Spiegelbild ein Imperium zusammenhielt.

Ähnlich dem zwischenzeitlich im Sommer 1943 entmachteten Mussolini träumte Hitler zu diesem Zeitpunkt davon, zu den revolutionären Anfängen der Bewegung zurückzukehren und noch einmal mit dem nationalen Sozialismus ganz ernst zu machen. Mussolini nannte seinen kurzlebigen norditalienischen Reststaat "soziale Republik" – eine Parole der Zweiten Internationale20 –, er propagierte die Vergesellschaftung der Betriebe, und selbst einige seiner Anhänger empfanden diese Art von Faschismus als "kommunistoid"21. In seinem scharf antikapitalistischen Kurs ging Mussolini schließlich soweit, Schriften von Marx, Engels und Lenin drucken zu lassen, die der theoretischen Deckung seiner alt-neuen "Klassenpolitik" dienen sollten. Während die deutschen Dienststellen die Linie des Duce mit wachsender Irritation beobachteten, griff Hitler nicht ein. Er selbst sollte schließlich in seinem "Politischen Testament" als Versäumnisse festhalten, die alten Oberschichten in seinem Machtbereich nicht radikal ausgerottet und die deutschen und die ausländischen Arbeiter gegen ihre Ausbeuter und die unterdrückten Völker Asiens gegen ihre britischen und französischen Kolonialherren aufgestachelt zu haben, um so eine "Revolution von europäischem Ausmaß"22 in Gang zu bringen.

Daß der Nationalsozialismus tatsächlich und vollständig gescheitert war, hat Hitler bis zum Schluß nicht geglaubt. Er meinte, daß seine Ideologie nach einer Phase, in der die Siegermächte Deutschland gemeinsam niederhalten würden, auferstehen könnte, und daß sich die Länder der von uns sogenannten Dritten Welt erheben würden. Dort haben nach 1945 Elemente des National-Sozialismus überlebt, insofern die nach der Dekolonialisierung eingerichteten Entwicklungsdiktaturen vielfach den Prozeß des nation-building mit einem besonderen nationalen Sozialismus abzustützen versuchten23. Daß der im allgemeinen pro-sowjetisch orientiert war und direkte Kontinutität zu den Faschismen oder National-Sozialismen der Zwischenkriegszeit nur ausnahmsweise bestand – etwa bei Nasser, der aus der Bewegung der ägyptischen Silvershirts kam oder bei den großsyrischen Nationalsozialisten, die in der heutigen Baath-Partei aufgegangen sind –, ist von geringer Bedeutung, wenn man sich klar macht, daß der Antikommunismus für die National-Sozialismen der Zwischenkriegszeit zwar ein vor-, aber keineswegs das erstrangige Ziel gewesen ist. Der stärkste Impuls, der zur Ausbildung national-sozialistischer Vorstellungen geführt hat, war immer die Verteidigung der Nation und die umfassende soziale Integration ihrer Glieder zum Zweck einer wie auch immer definierten Selbstbehauptung. Deshalb hatte auch der Zusammenbruch des sowjetischen Systems nicht das völlige Verschwinden dieses Impulses zur Folge, der entsprechende Ideen begünstigen kann, solange die Nationalstaaten als funktionstüchtige und entscheidende politische Einheiten verbleiben.

 

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1 Zu dem – im einzelnen schwer abschätzbaren – Ausmaß dieser Krise vgl. neuerdings H. A. Turner: Hitlers Weg zur Macht: der Januar 1933, München 1997, bes. S. 105.

2 60 Prozent der Befragten äußerten keinerlei antisemitische Motive als Grund für den Parteieintritt, allerdings glaubt A. zurecht, daß eine Reihe von ihnen es als Nationalsozialisten nicht nötig fanden, diesen Punkt hervorzuheben; in dem Zusammenhang nennt er allerdings auch noch einen Anteil von vier Prozent, der den Antisemitismus der NSDAP offen ablehnte; vgl. T. Abel: Why Hitler came into Power [1938], Neudruck Harvard 1986, S. 164.

3 T. Abel, Hitler ( Anm. 2), S. 145.

4 So Marion Gräfin Dönhoff in der Erinnerung an ihre politische Orientierung zu Beginn der dreißiger Jahre in einem Interview von 1995; hier zit. nach Ch. H. Werth, Sozialismus und Nation, Opladen 1996, S. 289.

5 Zit. nach K.-P. Hoepke: Die deutsche Rechte und der italienische Faschismus, Düsseldorf 1968, S. 140.

6 Vgl. O.-E. Schüddekopf: Bis alles in Scherben fällt. Die Geschichte des Faschismus, London 1973, S. 212.

7 E. J. Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München und Wien 1995, S. 175; der marxistische Historiker H. urteilt: "Die faschistischen Regime Europas haben die Arbeiterbewegungen zerstört; die lateinamerikanischen Führer, inspiriert von den europäischen Faschisten, haben die Arbeiterbewegungen gegründet."

8 Vgl. B. Semmel, Imperialism and Social Reform, London 1960, S. 248.

9 E. Nolte: Die faschistischen Bewegungen, Lausanne 1969, S. 282.

10 Vgl. Sir O. Mosley: Weg und Wagnis. Ein Leben für Europa, Leoni 1973, S. 180–182.

11 Vgl. D. Wolf: Die Doriot-Bewegung. Ein Beitrag zur Geschichte des französischen Faschismus, Stuttgart 1967, S. 222.

12 Zit. nach R. Schwarzer: Idee und politische Wirklichkeit bei Marcel Déat, Pfaffenweiler 1987, S. 222, zu Anm. 13.

13 H. de Man: Die sozialistische Idee, Jena 1933, S. 335.

14 de Man, Idee ( Anm. 13), S. 328.

15 Zit. nach H. de Man: Gegen den Strom. Memoiren eines europäischen Sozialisten, Stuttgart 1953, S. 246.

16 Vgl. Schwarzer, Idee ( Anm. 12), S. 88, 99, 102.

17 Zit. nach J. Lukacs, Hitler, München 1997, S. 146.

18 P. Drieu la Rochelle: Faschistische Bilanz, 15. 7. 1944, zit. nach H. W. Neulen: Europa und das 3. Reich. Einigungsbestrebungen im deutschen Machtbereich 1939–1945, München 1987, S. 280–288, hier S. 284, 285f.

19 Zit. nach Zitelmann, Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs, Stuttgart 31991, S. 478.

20 Vgl. G. Scheuer, Genosse Mussolini. Wurzeln und Wege des Ur-Fascismus, Wien 1985, S. 98.

21 Vgl. K. Mittermaier: Mussolinis Ende. Die Republik von Salò 1943–1945, München 1995, S. 138.

22 Zit. nach Zitelmann, Hitler (Anm. 19), S. 170.

23 Vgl. für den Zusammenhang M. Wolffsohn: Linker und rechter National-Sozialismus, in: Zeitschrift für Politik 24 (1977), S. 56–80.


 
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