© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/98  09. Oktober 1998

 
 
Mehr als eine Wahrheit
Walter B. Simon

Durch den technischen Fortschritt sind auf der Erde Entfernungen überwunden. Sogar das Weltall ist zugänglich geworden. Durch Transport mit Überschall- und Kommunikation mit Lichtgeschwindigkeit ist der Erdball zu einer einzigen Nachbarschaft zusammengeschrumpft. Bei berechtigter Bewunderung für die Leistungen der Technik ist es angezeigt, die Wirkungen dieser Entwicklung kritisch zur betrachten. Eine rechtzeitige Diagnose könnte unerwünschten Folgen vorbeugen. Jetzt sind alle überfordert, die sich in der Fülle von Nachrichten zurechtfinden sollen, die aus allen Teilen der Welt hereinströmen, um zu entscheiden, was zur Kenntnis zu nehmen ist. Vielleicht könnten die Medien zusätzliche Informationen zur Verfügung stellen, um Orientierung zu ermöglichen. Information ist eine Herausforderung für die, welche verantwortungsvolle Entscheidungen treffen. In vergangenen Zeiten bestand deren Aufgabe in der Beschaffung relevanter Auskunft. Jetzt geht es um sorgfältige Auswahl von Berichten.

Unser Thema ist der Einfluß der Globalisierung auf den Stellenwert von Konflikten in der Gesellschaft. Dabei unterscheiden wir zwischen zwei Ursachen gesellschaftlicher Konflikte: wirtschaftliche Interessengegensätze und kulturelle Unterschiede.

Wirtschaftliche Interessengegensätze sind in dem Maße lösbar, in welchem die Konfliktparteien die Kosten des Austragens von Konflikten und die der jeweiligen Kompromißlösungen berechnen können. Von Bedeutung sind dabei die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern: Konflikte werden heftig, wenn die Arbeitskraft zur Ware degradiert wird. Voraussetzung für einverständliche Lösungen der Konflikte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist die gegenseitige Anerkennung der kontraktuellen Natur dieser Beziehung. Wirksame Interessenvertretung der Arbeitnehmer hat sich im Rahmen demokratischer Institutionen durchgesetzt. Damit sind unter den Arbeitnehmern klassenkämpferische Ideologien mit ihren utopischen Zielsetzungen verschwunden. Diese bleiben dann bisweilen auf wirklichkeitsfremde Intellektuelle beschränkt.

Im Sog der um sich greifenden Globalisierung der Wirtschaft im Rahmen völlig ungeregelter Konkurrenz am globalen Markt wird die Arbeitskraft neuerlich zunehmend zur Ware degradiert. Uneingeschränkter und völlig ungeregelter Wirtschaftsliberalismus kann die Arbeitgeber zwingen, die Produktion dorthin zu verlegen, wo die Arbeitskräfte am billigsten sind. Wie in der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre könnte das zu einer katastrophalen Massenarbeitslosigkeit und auch dazu führen, daß den Konsumenten zum Kauf benötigter Konsumgüter das Geld fehlt. Dabei könnte sich wiederholen, daß benötigte Konsumgüter vernichtet werden, um Preisverfall zu verhindern. Folglich litten Konsumenten Not nicht obwohl, sondern gerade weil zuviel Konsumgüter vorhanden sind.

Die Wirtschaftskrise der 30er Jahre wurde spätestens vom Zweiten Weltkrieg abgelöst. Dabei ist bemerkenswert, daß es trotz der kriegsbedingten Verknappung damals vielen vormals verarmten Opfern der Krise möglich wurde, Konsumgüter zu erwerben, welche für sie vorher unerschwinglich gewesen waren. Jetzt war nämlich auch Arbeitskraft zu benötigter knapper Ware geworden, die ihren Preis hatte.

Kulturelle Unterschiede: Alle Lebewesen haben eine biologische Identität. Nur die Menschen haben zusätzlich eine kulturelle Identität. Zur Kultur gehört, was Menschen gelernt und was sie gezielt geschaffen haben. Kulturelle Identität besteht aus Religion und Sprache. "Kulturell sind wir Menschen von einander getrennt, als wären wir verschiedene Arten. Biologisch verkörpern wir eine Einheit." (Irenäus Eibl-Eibesfeldt)

Konflikte über Religion haben vom 8. bis zum 18. Jahrhundert die Geschichte Europas und des Mittelmeerraums geprägt. Da waren die Kriege zwischen Christentum und Islam, gefolgt von Konflikten zwischen Reformation und Gegenreformation, begleitet von Zwangsbekehrungen, Vertreibungen und Verfolgungen von Andersgläubigen. Lösungen erschienen häufig auf der Grundlage von "cuius regio – eius religio": Das bevollmächtigte Herrscher, den Glauben ihrer Untertanen zu bestimmen. Im 17. Jahrhundert wanderten bereits Europäer in die damals britischen Kolonien in Nordamerika aus, auch um dort ihren Glauben zu praktizieren. In den britischen Kolonien setzte sich volle Religionsfreiheit durch, welche mit der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika gesetzlich verankert und institutionalisiert worden ist. Durch die Rückwirkung setzte sich auch in Europa Religionsfreiheit durch.

Zwischen Amerika und Europa bestand hier jedoch ein Unterschied: In Amerika hatte sich die Religionsfreiheit durch Einwanderer durchgesetzt, welche die Ausübung der eigenen Religion mit Achtung vor der Religion Andersgläubiger verbanden. In Europa erschien Religionsfreiheit zusammen mit Mißachtung der Religion als solcher. Die Religionskriege und religiöse Intoleranz hatten in Europa religiösen Glauben an sich kompromittiert. Inzwischen hat der Geist der Ökumene eine Überwindung der Kluft zwischen den Weltreligionen eingeleitet. Dazu hat der Anthropologe Jean Malaurie in der Le Monde Diplomatique vom Juli 1998 ein Konzept für eine Erweiterung der Ökumene auf die Naturvölker konzipiert. Er zitiert Aussagen von Eskimos und Indianern, welche die Lehre von christlichen Missionaren mit ihren mündlich überlieferten Glaubenssätzen verbinden. Dem fügt Malaurie hinzu: "La vérité n’est pas unique." (Es gibt nicht bloß eine einförmige Wahrheit). Schließlich gab es das Evangelium am Anfang als Wort, ehe es die große Literatur prägte. Dazu James Bryant Conent: "Unser Verhalten darf nicht auf den Regeln der Wissenschaft beruhen." Demnach führen wissenschaftliche Erkenntnisse zum Verständnis für die Materie; diese Erkenntnisse haben nichts mit dem Problem von Gut und Böse oder mit Recht und Unrecht zu tun. Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse und zwischen Recht und Unrecht finden wir in der großen Literatur. Die Regeln, die unser Verhalten prägen, beruhen auf der Ethik. Diese wird in der großen Literatur dargestellt. Zu der gehört vor allem das Buch der Bücher – die Bibel. Jetzt gilt es, aufgrund der großen Literatur und ausgehend von ihr vereinbarte Ansichten und Perspektiven in bezug auf Gut und Böse sowie auf Recht und Unrecht zu erarbeiten. Eine solche Erarbeitung erfolgt von unterschiedlichen Standpunkten; aber in einer globalen Nachbarschaft ist Zusammenarbeit unerläßlich.

Sprachliche Unterschiede führen zu Konflikten in mehrsprachigen Gebieten, in denen der Gebrauch der Sprache in Wort und Schrift die Aussichten im Berufsleben bestimmen. In Zusammenhang mit religiösen Unterschieden spielen Aufgeschlossenheit und Toleranz eine Rolle. Bei wirtschaftlichen Interessensgegensätzen erleichtern die Teilbarkeit der Streitobjekte und die berechenbaren Konfliktkosten einverständliche Kompromißlösungen. Bei Konflikten über sprachenpolitische Maßnahmen spielen Toleranz und guter Wille nur eine geringfügige Rolle, denn hier geht es um Streitobjekte, die nicht teilbar sind. Die Regelungen des Gebrauchs der Sprache in Wort und Schrift im Bildungswesen, in Ämtern, vor Gericht, in der Industrie, in Handel und Gewerbe und in den Medien bestimmen die Karriereaussichten von immer mehr Menschen.

Zugeständnisse in der Form von Anerkennung einer zuvor nicht anerkannten Sprache benachteiligen die, welche in der vormals bevorzugten und anerkannten Sprache aufgewachsen sind, denn von ihnen sind viele mit der vormals nicht anerkannten Sprache nicht vertraut. Umgekehrt haben viele, die in der zuvor nicht anerkannten Sprache aufgewachsen sind, die vormals bevorzugt zugelassene Sprache gelernt. Folglich führen bei sprachenpolitischen Konflikten Kompromisse nicht zu größerer Gleichheit, sondern zu einer Umkehrung der Rangordnung. Es gibt den zuvor Benachteiligten bevorzugten Zutritt zu allen Berufen, in denen die Beherrschung beider Sprachen verlangt wird. Dieser Umstand erschwert einverständliche Kompromißlösungen in Konflikten über sprachenpolitische Maßnahmen, welche den Gebrauch der Sprache im öffentlichen Leben regeln. Prognosen sind oft auf diesem Gebiet besonders ungünstig. Die meisten diesbezüglichen Konflikte, bisweilen als nationale oder als ethnische Konflikte bezeichnet, sind bisher zumeist durch erzwungene Assimilation, Zwangsbesiedlung und bisweilen auch mit Massenmord gelöst worden. Die Bedeutung sprachlicher Kompetenz nimmt im Berufsleben weltweit zu, während verschiedensprachige Menschen einander immer näher kommen. Gemeinsame kulturelle Identität verbindet die Menschen miteinander, während kulturelle Unterschiede sie voneinander trennen.

Die Herausforderung multikultureller Vielfalt wird an einem Ende des politischen Spektrums euphorisch als Bereicherung begrüßt und am anderen Ende als Bedrohung abgelehnt und bekämpft. Beide Reaktionen sind völlig unangemessen und werden der Problematik überhaupt nicht gerecht. Die Herausforderung der multikulturellen Identität erfordert vor allem eine Herausbildung und Stärkung der eigenen kulturellen Identität als Voraussetzung zur Orientierung in einer kulturell vielfältigen Umwelt auf der Grundlage des stoischen Prinzips: "Nichts Menschliches ist mir fremd!"

Dazu haben sich alle Klassiker der großen deutschen Literatur bekannt. Weltweit haben viele bedeutende Schriftsteller ihre schöpferische Tätigkeit mit der Übersetzung von Werken aus anderen Sprachen eingeleitet. Damit haben sie die eigene Kultur bereichert und die Kluft zwischen verschiedenen Kulturen abgebaut. Versuche der Abschottung der eigenen Kultur mit Abgrenzung gegen jeden Einfluß von außen erschienen und erscheinen im kultur- und menschenfeindlichen Prinzip: "Nichts Fremdes ist menschlich!" Das führt zur Erstarrung und zum Verfall der eigenen Kultur. Euphorische Begrüßung kultureller Vielfalt wird der Herausforderung dieser Zeit gleichfalls nicht gerecht, denn die Abwertung kultureller Unterschiede ist gleichfalls eine Abwertung jeglicher kultureller Identität und damit menschlicher Identität überhaupt. Am Anfang menschlicher Kultur stand das Wort.

Im multikulturellen Wirrwarr wird das Wort jedoch zunehmend von bunten Bildern verdrängt. Bedauerlicherweise nehmen nichtssagende Bilder ohne erläuternden Kommentar auch in approbierten Lehrbüchern immer mehr Raum ein. Multikultureller Wirrwarr erscheint in Schulen, in denen verschiedensprachige Schüler, die einander nicht verstehen, von einsprachigen Lehrern unterrichtet werden. Dabei ist erwiesen, daß Alphabetisierung, wenn möglich, in der Muttersprache stattfinden soll. Eine erfolgreiche Alphabetisierung in der Muttersprache ist ein vielversprechender Ausgangspunkt für das Erlernen weiterer Sprachen. Andernfalls kann sprachliche Verwirrung entstehen, bei der keine Sprache zufriedenstellend beherrscht wird. Die Beherrschung der eigenen Sprache in Wort und Schrift wird dann beim Erlernen anderer Sprachen zusätzlich untermauert.

Multikultureller Wildwuchs erscheint in den Medien. Die Verdrängung des gesprochen und geschriebenen Wortes durch bloße Buntheit hat katastrophale Folgen: Beim gesprochenen und geschriebenen Wort setzt eine emotionale Wirkung erst nach Verarbeitung des wörtlich vermittelten Inhaltes ein. Das Bild, verbunden mit lauter Musik, spricht die Emotionen direkt an. Vieles spricht dafür, daß emotionelle Anregung bei geistiger und körperlicher Passivität die Zuflucht zu emotionell wirksamen Drogen anregt. Der mögliche Zusammenhang zwischen großem Konsum von Fernsehen und Drogensucht sollte überprüft werden.

Interkulturelle Kontakte sind weltweit die Grundlage kultureller Entwicklungen in der Literatur und in der Kunst. Auch in der Architektur sind Synthesen stilistischer Bauweisen, angepaßt dem Umfeld, eindrucksvolle Kulturdenkmäler. Gerade in der Architektur führt multikultureller Wildwuchs zu abstoßenden Monstrositäten. Diese reflektieren bisweilen den Größenwahn von Tyrannen. Manche einförmigen, vielstöckigen Gebäudeblocks sind von phantasielosen Bürokraten angestiftet worden.

In einer globalen Nachbarschaft bedarf es dringend einer grenzüberschreitenden Verständigung zur Bewahrung unterschiedlicher Identitäten. Das erfordert schöpferische interkulturelle Kontakte, welche die Pflege des vielfältigen kulturellen Erbes fördern.


 
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