© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/98  09. Oktober 1998

 
 
Pankraz, Pietro Aretino und der Preis des Schweigens

Die deprimierendste Neuerscheinung zur Buchmesse ist möglicherweise die Aretino-Biographie "Kurtisanenfreund und Fürstenplage" von Klaus Thiele-Dohrmann, ausgerechnet in dem feinen Verlag Artemis & Winkler. Ganz ungeniert wird darin das wohl übelste Gewächs der italienischen Renaissance gefeiert, das Urbild des publizistischen Erpressers, der vorrangig nicht von dem lebt, was er schreibt, sondern von dem, was er nicht schreibt. So etwas gehört eigentlich nicht auf eine Buchmesse, sondern eher auf eine Unbuchmesse.

Es ist richtig, Aretino konnte ziemlich gut formulieren. Aber seine Hervorbringungen sind heute (und waren schon damals) faktisch ohne jeden literarischen Belang, interessieren nur noch Kulturhistoriker und Renaissance-Experten. Der Mann lebte, wie gesagt, von Erpressungen, trieb sich in den Bordellen von Rom und Venedig herum und verstand es, den dort untergebrachten Damen ihre Geschäftsgeheimnisse abzuluchsen, besonders die Kundenkarteien, in denen sich die Namen von so manchem hochmögenden und zahlungskräftigen Besucher fanden. Diese Namen schnappte sich der Hurensohn Aretino und setzte damit die Kunden unter Druck.

Er ließ Päpste, Aristokraten und Kaufleute wissen: "Ich weiß was von dir, und wenn du nicht umgehend soundso viele Dukaten locker machst, weiß es bald die ganze Stadt." Natürlich zahlten die Betroffenen, und so kam Pietro Aretino blendend über die Runden. Rachemaßnahmen gegen ihn blieben erfolglos, denn er hatte sich mit dem Räuberhauptmann Giovanni von der Schwarzen Fahne verbündet, der ihn wirkungsvoll beschützte und mit dem er das erpreßte Geld teilte. Er war wirklich ein exzellentes Früchtchen, dabei ohne jede Anmut und nur den gröbsten Witzen zugetan. Daß er mit dem großen Tizian befreundet war, ist für den nicht gerade ein Ruhmesblatt.

Das Beispiel Aretinos hat Schule gemacht, im Zeitalter der Massenpresse ab dem neunzehnten Jahrhundert wurden immer mal wieder Zeitungen gegründet, deren einziger Zweck darin bestand, Skandale aufzuwühlen und die Skandalisierten damit zu erpressen. In die Geschichte eingegangen ist der Fall jenes ungarischen Blattmachers im Wien der Belle Époque, dem schließlich Karl Kraus das Handwerk legte:"Hinaus aus unserer Stadt!"

Inzwischen haben es die Aretinos schwerer. Die Bekanntgabe intimer Details reißt kaum noch jemanden vom Stuhl, außerdem liegt sie – siehe den Fall Clinton – mittlerweile in den Händen hochmoralischer, vom Parlament extra bestellter Sonderermittler, die kein Geld, sondern Blut sehen wollen und deshalb nicht daran denken, irgendetwas schlau zurückzuhalten. Die Erpresserei hat sich vom Sexuellen aufs rein Kaufmännische und genuin Politische verlagert.

Trotzdem gilt auch heute noch in manchen Redaktionen: Nichtveröffentlichen ist einträglicher als Veröffentlichen. Das Archiv als Droh- und Einschüchterungs-Potential. Man verlangt meistens kein Geld mehr, jedenfalls nicht direkt, begnügt sich mit ganzseitigen Anzeigen oder gibt dem Opfer zu verstehen, daß es aus Selbsterhaltungsgründen dies oder das tun oder unterlassen möge. Die Angst, daß "etwas" veröffentlicht werden könnte, ist merkwürdigerweise auch im "Informationszeitalter" unverändert groß und verschafft den Nichtveröffentlichern Macht.

Auch gewisse Züge von genußvoll ausgekostetem Sadismus werden erkennbar. Wenn ein Skandal ins Rollen gekommen ist und das Opfer tagtäglich mit "weiteren Enthüllungen" rechnen muß, entfaltet sich eine breite Skala zwischen Nichtveröffentlichen und Mit-der-vollen-Wahrheit-Herausrücken. Obwohl man den ganzen Roman längst komplett in der Schublade liegen hat und damit eigentlich zum Staatsanwalt gehen müßte, serviert man peu à peu nur kleine Häppchen, um die Chose am Kochen zu halten und das Opfer immer unsicherer und gefügiger zu machen. Auch diese Methode war dem Aretino bereits wohlbekannt.

Und natürlich verstand er es auch schon, sein Geschäft mit einer Gloriole zu umgeben, sich als Hüter der Wahrheit hinzustellen, dem das Schmutzaufwühlen nicht das geringste einbrachte und nicht einmal Spaß machte. "Veritas odim parit", hieß sein protziger Wappenspruch. Damit hat ihn Tizian gemalt, wobei immerhin für dessen Künstlertum spricht, daß er das Galgenvogelhafte in der Physiognomie seines Modells grell und einfühlsam herausstellte.

Interessant bleibt an dieser Figur am Eingang der modernen Literatur, wie scharf und effektiv sie die Möglichkeiten des damals neuen Mediums "Druck" zu kalkulieren wußte. Während sich die Humanisten und Luther schier überschlugen vor Begeisterung über die Druckerpresse, mit der sie via Flugzettel an ein ungeahnt zahlreiches Publikum herankommen und es mit ihren Ideen bekannt machen konnten, sah Aretino nüchtern, daß es auf allen Ebenen des Lebens eine heikle Dialektik zwischen Drucken und Nichtdrucken gab und daß in vielen Fällen das Drucken tatsächlich nur Silber abwarf, das Nichtdrucken hingegen Gold.

Wobei das Gold der Beschweigung durchaus nicht immer klingende Münze sein muß. Es verheißt manchmal auch edleren Gewinn, was zwar nicht Aretino wußte, aber beispielsweise die zen-buddhistischen Mönche wissen, die ein ganzes hochsensibles Kommunikationssystem des beredten Sichanschweigens entwickelt haben, weil sie den Verständigungsmöglichkeiten der gesprochenen Sprache tief mißtrauen, von der gedruckten zu schweigen.

Wer die Masse des Gedruckten auf der Buchmesse abwandert und hin und wieder eine Leseprobe nimmt, der wird ohnehin schnell merken, daß vieles davon reine Umweltverschmutzung ist, eine Art semantischer Castor-Transport. Er wünschte dann beinahe, so mancher zeitgenössische Autor wäre wie Aretino und ließe sich durch Geld vom Schreiben abhalten.


 
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