© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/98  16. Oktober 1998

 
 
Finanzwirtschaft: Der weltweite Börsen-Crash nimmt Konturen an
Aktien auf der Achterbahn
Bernd-Thomas Ramb

Im vergangenen Sommer war die Welt noch in Ordnung. Die Aktien hatten im Juli nie erträumte Höchststände erklommen, zur Freude der Aktionäre und zum heftigen Leidwesen der Kritiker des ungehemmten Kapitalismus. Von Spekulationsblasen war die Rede, spontane Steuererhöhungsprogramme zur Abschöpfung der Spekulationsgewinne wurden über Nacht entworfen oder aus der verstaubten Schublade gezogen, den Unternehmen brutales "shareholder-value"-Streben zu Lasten der Arbeitsplätze vorgehalten.

Inzwischen hat der DAX als Indikator des Aktienwertes der dreißig wichtigsten deutschen Aktien nach seinem Höhenflug mit Spitzenwerten über 6.000 Punkten ein Drittel seines Wertes eingebüßt und steht wieder auf dem Niveau des Jahresanfangs. Verklungen ist die Freude der Aktionäre, soweit sie nicht rechtzeitig Aktien verkauft haben, verstummt ist aber auch das Lamento der Kritiker des Aktienkapitalismus. Aus Spekulationsverlusten lassen sich kaum Argumente zur zusätzlichen Besteuerung des Aktienkapitals herleiten.

Die extreme Entwicklung der deutschen Aktien ist kein Einzelfall. Ganz Europa verzeichnet ein ähnliches Auf und Ab der Börsen mit einem sommerlichen Hoch und einem herbstlichen Rückfall auf die Frühjahrswerte. Selbst die US-Aktien haben seit ihrem Höchstwert im Sommer etwa 20 Prozent an Wert verloren und liegen unter ihren März-Daten. Noch schlimmer traf es die Halter japanischer Aktien. Der Nikkei-Index sank nahezu kontinuierlich von 17.000 Punkten im Februar dieses Jahres auf 13.000 im September, den niedrigsten Stand seit zehn Jahren. Weniger beachtet, aber nicht minder spektakulär ist auch der Niedergang der lateinamerikanischen Aktien. In Mittel- und Südamerika verloren die Aktien seit dem Frühjahr nahezu die Hälfte ihres Wertes. Nur Osteuropa kann diesen extremen Kursabsturz noch übertreffen. Im September ist der Wert der neukapitalistischen Aktienfirmen in den ehemaligen Staatsmonopolländern auf 40 Prozent des Mai-Wertes gesunken. Dabei wurde diese Entwicklung noch durch verhältnismäßig moderate Kursverluste in den prosperierenden Staaten Ungarn, Tschechien und Polen gedämpft, obwohl auch deren Aktienmärkte in den Abwärtssog der russischen Panikkäufe gerieten.

Aktienindizes spiegeln naturgemäß nur eine mittlere Bewegung der Einzelwerte wider. Gerade in Deutschland lohnt daher ein Blick auf einzelne Aktien mit divergierenden Verläufen. Besonders hart von der Abwärtsbewegung getroffen sind die Bankaktien, deren Kursverluste teilweise bis zu 50 Prozent betrugen. So hatte etwa die Aktie der Deutschen Bank seit ihrem Höchstwert am 22. Mai mit 163 Mark bis Anfang Oktober einen Absturz auf 80,50 Mark zu vermelden, und die Dresdner Bank fiel von über 110 auf unter 60 Mark.

Arg gebeutelt hat es auch die Aktien der Exportwirtschaft. Die BMW-Aktie halbierte ihren Mai-Wert von 2.000 Mark auf 1.000 Mark, Thyssen stürzte von 439 auf 274 Mark, und selbst die Hoechst-Aktie konnte sich dem allgemeinen Trend nicht entziehen und sank von 95 auf 60 Mark. Einige Ausnahmewerte wiederum, wie beispielsweise die Telekom-Aktie, konnten ihre Sommerwerte nahezu konservieren.

Die Gründe für die Berg- und Talfahrt der Aktien sind vielfältig. Neben firmenspezifischen Faktoren, die zur Erklärung einzelner Sonderbewegungen beitragen, beeinflussen Branchenbesonderheiten und allgemeinwirtschaftliche Entwicklungen den Wert. So steigern zunehmende Gewinnerwartungen und die damit verbundene Hoffnung auf höhere Dividenden den Aktienkurs. Wenn aber, wie bei Hoechst geschehen, der Quartalsbericht Verluste signalisiert, geht die Aktie weiter in den Keller.

Im Gesamtbild der Aktienmärkte werden die Gewinnerwartungen durch Wachstumsprognosen ersetzt. Die zunehmend schärfere Rücknahme der euphorischen Wachstumsprognosen, gerade für Deutschland, erklärten recht gut den abrupten Einbruch des DAX seit dem letzten Sommer. Bereits jetzt ist absehbar, daß auch die von 3,5 auf 2,5 Prozent reduzierten Erwartungen für das Wirtschaftswachstum im nächsten Jahr nicht haltbar sind und die deutsche Wirtschaft schon hoch erfreut sein kann, wenn eine Zwei vor dem Komma steht.

Da die Reduktion der Wachstumsprognosen insbesondere auf ein Zurückschrauben der Exporterwartungen zurückzuführen ist, wird der Zusammenhang mit der weltweit sich abzeichnenden Wirtschaftsrezession deutlich und damit auch die parallele Entwicklung der Aktienmärkte erklärbar.

Der verheerende wirtschaftliche Abstieg des einstigen Musterlandes Japan zeigt nach wie vor seine globalen Wirkungen. Die Rußland-Krise verstärkt dies, wenn auch aufgrund des geringen Handelsvolumens mehr psychologisch als realwirtschaftlich. Hingegen wurde der enorme Verfall der Rohstoffpreise in seinen negativen Folgen für die Exportnationen bislang noch wenig wahrgenommen. Was einerseits die Importkosten entlastet und zu einer Dämpfung der heimischen Inflation führt, bedeutet andererseits für die Rohstoffexportländer Einkommensverluste, die Nachfragereduktionen bei den Industriegütern nach sich ziehen. Die drohenden Einbrüche auf dem deutschen Exportmarkt werden nicht durch gestiegene Erwartungen auf dem Binnenmarkt kompensiert. Die bislang stets bei den deutschen Aufschwunghoffnungen fehlende Binnennachfrage kann selbst durch eine aus Staatsmitteln finanzierte Nachfragesteigerung kaum zu Höchstleistungen ermuntert werden. Mehr als ein Strohfeuer dürfte kaum zu erwarten sein.

Der Kurs der Aktien wird aber nicht nur durch reale wirtschaftliche Faktoren bestimmt. Jede Menge Psychologie beherrscht das Börsenparkett. Insbesondere massenpsychologische Effekte verstärken extreme Auf- und Abwärtsbewegungen. So ist die Aktienentwicklung zwischen den Sommern 1997 und 1998 in einem erheblichen Umfang aus Nachahmungseffekten zu erklären. Jeder stieg in die Milchmädchen-Hausse ein, wie Börsianer eine Entwicklung bezeichnen, bei der auch der kleinste Sparer auf den Aktienzug noch aufspringen will – meist zu spät bei sehr hohen Kursen. Selbst als der amerikanische Notenbankchef Alan Greenspan vor einer realwirtschaftlich nicht fundierten Spekulationsblase warnte, gaben die gewinngierigen Spekulanten nicht nach. Nun hat sie die Baisse erwischt. Aber auch hier zeigen sich nur noch psychologisch deutbare Übertreibungen. Der steile Absturz der Aktienwerte hat einen Tiefpunkt erreicht, der genauso wenig durch reale wirtschaftliche Faktoren gestützt wird wie der vorangegangene Höhenflug.

Daß der große Aktien-Crash bei aller Abstiegsdramatik ausblieb, beweist die kühle Gelassenheit insbesondere der Jungaktionäre. Nachdem die Aktie vom sicherheitsbewußten Durchschnittsdeutschen jahrzehntelang unbeachtet blieb, hat sich die deutsche Bereitschaft zur Aktienanlage mittlerweile dem internationalen Volumen angenähert. Ebenso wurde erkannt, daß Aktiengeschäfte langfristigen Anlagestrategien folgen müssen. In der langfristigen Sicht sind selbst so spektakuläre Börsencrashs wie im Oktober 1929 verkraftet worden. Nach etwa zehn Jahren war der überwiegende Teil der Kursverluste wieder ausgeglichen. Auf der Strecke blieben die Spekulanten, die auf eine schnelle Mark setzten.

Auch heute und gerade für den Aktienmarkt gilt das eherne Gesetz der Marktwirtschaft: je höher die Gewinnerwartung, um so höher das Risiko des Totalausfalls. Wer neidisch ist auf erfolgreiche Spekulanten und diese deshalb besteuern will, sollte daher auch das Verlustrisiko sehen. An Subventionszahlungen für erfolglose Spekulanten wird aber nicht gedacht. Das Prinzip, Gewinne zu sozialisieren und Verluste zu privatisieren, ist jedoch genauso wirtschaftsfeindlich wie das umgekehrte Prinzip.


 
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