© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/98  16. Oktober 1998

 
 
Pankraz,
Cicero und die Schlappe des bürgerlichen Lagers

Verwirrung der Gefühle: Das "bürgerliche Lager", hieß es in den letzten Tagen immer wieder, habe bei den Bundestagswahlen eine schwere Niederlage erlitten. Pankraz fragt sich, was für ein Begriff von Bürgerlichkeit solchem Reden zugrunde liegen mag. Ein "Bürgertum" im auch nur einigermaßen eingrenzbaren Sinne gibt es doch schon lange nicht mehr, sowenig wie es noch eine "Arbeiterklasse" im herkömmlichen Sinne gibt.

Es gibt Angestellte mit mehr oder weniger Geld auf dem Konto, daneben eine im Vergleich dazu kleine Anzahl von Leuten, die "selbständig" sind insofern, als sie etwas auf eigene Rechnung herstellen und/oder anbieten: Gebrauchsartikel, Dienstleistungen, Beratung, Werbesprüche. Und es gibt die Arbeitslosen. Weder die Angestellten noch die Selbständigen und nicht einmal die Arbeitslosen bilden ein einheitliches soziales Milieu, geschweige denn ein politisches Lager.

Zwar mag hier und da (im Ruhrgebiet etwa) traditionelles Milieubewußtsein noch vorkommen und auch, daß damit gewisse politische Optionen verbunden werden. Doch das sind absterbende Etats. Was politische Präferenzen betrifft, kann man heute nicht einmal mehr zwischen "Besserverdienenden" und "Normalverdienern" zuverlässig unterscheiden, dergestalt also, daß die Besserverdienenden der einen Seite zuneigen und die Normalverdiener der anderen. Alles ist im Fluß, und Parteistrategen, die mit soziologischen Zuordnungen herumhantieren, haben auf Sand gebaut.

Was statt dessen zählt, sind eher virtuelle Angebote. Nicht mehr derjenige wird gewählt, der dies und das zu machen verspricht, sondern derjenige, der es "besser" machen will. Wobei das "besser" sich keineswegs nur auf Sachverhalte beziehen muß, sehr oft geht es auch um Stilfragen: ob einer mehr Unternehmergeist, mehr Tüchtigkeit, mehr Kompetenz austrahlt als sein Konkurrent, ob er besser "ankommt", ob er "unverbraucht" ist, ob die "Sympathiewerte" bei ihm höher liegen.

Die im Wahlkampf hochgespielte Frage der Staatsanteile und des staatlichen Einflusses interessiert nur wenige. Den Staat als bloßen Nachtwächter, der die hemmungslosen Abzocker auflagenlos operieren läßt, wünscht in Mitteleuropa niemand. Der Staat soll liberal, aber andererseits auch wieder hocheffektiv sein, und seine Diener sollen bei der Selbstprivilegierung nicht zu happig sein. Ist dies garantiert, kümmert sich im Grunde kaum ein Wähler um die Frage "Neoliberalismus oder Sozialismus".

Viel anstößiger als die Maßnahmen des Staates wirken zur Zeit die Tricks der Parteien. Daß jemand faktisch von sämtlichen höheren Staatsdiensten, ja, sogar von kleinen kommunalen Posten ausgeschlossen bleibt, wenn er nicht Mitglied einer "demokratischen" Partei ist, bereitet unwilliges Kopfschütteln. Daß im Zweifelsfalle "richtige" Parteizugehörigkeit immer den Vorzug vor Tüchtigkeit und Qualifikation bekommt, akkumuliert Dauerwut.

An sich ist dies alles nicht unsympathisch, gerade auch für den, dem das "bürgerliche Lager" noch irgendwie am Herzen liegt. Das ganze Land scheint sich ja in ein bürgerliches Lager verwandeln zu wollen. Es geht beim Wählen nicht mehr um die rücksichtslose Interessenbefriedigung von Milieus oder Parteien, sondern ein emphatischer Begriff von Bürgerlichkeit entsteht da neu, in dem das Ganze und der Teil, das Gemeinwesen und der einzelne zusammengedacht werden. Nur wenn "es" besser gemacht wird, kann es auch mir selber besser gehen – das scheint sich als allgemeine Überzeugung durchzusetzen.

Daß die Sache freilich einen Haken hat, weiß jeder. Er wird sofort erkennbar, wenn man sich vergegenwärtigt, welch ungeheure Ranküne tagtäglich in den Medien und in den Schulen und überhaupt im öffentlichen "Diskurs" gegen das Ganze, gegen die Polis, gegen den Volkssouverän mobilisiert wird, wie diese Kräfte höhnisch verrissen oder – bestenfalls – zum Objekt öliger präsidialer Sonntagsreden gemacht werden, um die sich niemand kümmert.

Einerseits bringt sich der freche Hedonismus der sogenannten Spaßgesellschaft gegen die Polis in Stellung, andererseits das aggressive Gegreine derer, die den Volkssouverän, zumal den deutschen, auf eine bloße "Schuldgemeinschaft" reduzieren möchten, welche gar kein Recht auf Souveränität habe, sondern vorzugsweise (oder gar ausschließlich) fremde Interessen zu bedienen habe. Ohne jede Beweiskraft wird das anarchische Weltganze als "globaler Souverän" hingestellt, der angeblich jeder begrenzten Polis überlegen sei.

Wenn man also schon von einer Niederlage des bürgerlichen Lagers sprechen will, so sollte man ehrlicherweise hinzufügen, daß diese Niederlage erst droht, daß sie ein Gespenst am politischen Horizont ist, wenn auch ein höchst reales. Spaßgesellschaft/Schuldgemeinschaft contra Polis/Bürgerliches Lager – so wird wohl die Hauptkonfrontation bei zukünftigen Wahlkämpfen aussehen. Sich das rechtzeitig klar zu machen, wird einem helfen, die Phrasen und Kapriolen der Wahlkämpfer in spe zu durchschauen und sie auf ihre politische Basis zurückzuführen.

Auch im bürgerlichen Lager darf es natürlich Spaß geben, und daß die einzelnen Souveräne auf friedliche und vernünftige Weise nach Interessenausgleich mit anderen Souveränen streben müssen, ist die pure Selbstverständlichkeit. Letztlich gilt aber, besonders in schweren Zeiten, Ciceros Wahlspruch: "Res publica suprema lex."

Worauf es ankommt, ist, die Gewichte und Prioritäten richtig zu setzen, jeweils das rechte Maß zu finden und die optimale Rhetorik dazu, es mithin in jeder Hinsicht "besser" zu machen. Wer das schafft, der wird die Zustimmung aller neuartigen Bürger erringen und kann auf die Stimmen der Hedonisten und Schuldredner verzichten.


 
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