© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/98  23. Oktober 1998

 
 
Wirtschaftspolitik: Interview mit Eberhard Hamer vom Mittelstandsinstitut Niedersachsen
"Sie vertreiben den Mittelstand"
von Dieter Stein

Herr Professor Hamer, Gerhard Schröder versprach vor der Wahl eine Politik der "neuen Mitte". Kann davon jetzt noch die Rede sein?

Hamer: Er hat richtig kalkuliert. Nach unseren Umfragen waren 82 Prozent der mittelständischen Unternehmer mit der alten Regierung unzufrieden. Das hing damit zusammen, daß die alte Regierung den Mittelstand vernachlässigt hat. Die alte Regierung war gesteuert von den großen Konzernen und Banken. Sie hat deren Politik betrieben und Steuergeschenke auch immer zu deren Gunsten gemacht. Beispiel Gewerbekapitalsteuer. Die Gegenfinanzierung wurde beim Mittelstand gemacht. Beispiel Dienstwagen- steuer. Die Leute waren über die Konzernlastigkeit der alten Regierung verärgert und darüber, daß die Regierung glaubte, den Mittelstand trotz Vernachlässigung sicher zu haben. Schröder hat dies erkannt: Alle Wahlen sind in der Nachkriegszeit in der Mitte entschieden worden. Ohne Mittelstand gibt es also keine Mehrheiten in Deutschland.

Wer ist denn nun der Mittelstand?

Hamer: Mittelstand sind diejenigen, die eigene Verantwortung und eigenes Risiko tragen. Das sind 3,8 Millionen selbständige Unternehmer, das sind die selbständigen Künstler, Schriftsteller, die Journalisten und alle anderen, die Eigenverantwortung tragen. Wer keine Eigenverantwortung trägt, gehört nicht zum Mittelstand, sondern ist im Grunde ein Rädchen in den großen Systemen des Großkapitals oder des Staates oder eben ein Untertan wie die Arbeiter, die zumeist keine Verantwortung tragen und tragen wollen. Insofern stellt der Mittelstand fast 40 Prozent des Volkes dar und die entscheidende Gruppe für Wachstum, Beschäftigung, Stabilität einer Demokratie und ebenso für die Stabilität einer Marktwirtschaft. Was er leistet: Aus diesem fleißigen Mittelstand kommen 62 Prozent aller Steuern. Da er aber kaum Subventionen oder Sozialleistungen zurückbekommt, ist er zu über 80 Prozent Nettofinanzierer nicht nur des Staates, sondern auch dessen, was der Staat nach unten und oben verteilt.

Warum ist die Lobby des Mittelstandes so schwach und die der Großkonzerne so stark?

Hamer: Die Mentalität eines Selbstverantwortlichen ist anders als die eines Angestellten. Weder die Beamten des Staates noch die Angestellten des Großkapitals – Manager eingeschlossen – tragen persönliches Risiko. Nur der Mittelstand trägt persönliches Risiko. Deshalb hat er eine völlig andere Mentalität. Und da Mittelständler in der Regel Einzelkämpfer sind, sind sie nicht so kooperationsfreudig und haben wenig Zeit für Verbandsarbeit. In den großen Verbänden geben deshalb die Konzernmanager oder die von ihnen abgestellten Lobbyisten den Ton an. Ein Fehler liegt auch bei der Wissenschaft. Die Betriebswirtschaftslehre nennt den Unternehmer ja auch nur "dispositiven Faktor". Das heißt, sie stellt sich darunter nur einen Entscheidungsfunktionär vor, wie einen Computer, in den man die Tatbestände eingibt und die Entscheidung herauszieht. Der Unternehmer ist aber eine Person, die nicht rationalökonomisch, sondern subjektiv-ökonomisch, oft aus dem Bauch, entscheidet. Viele Betriebswirtschaftslehrer haben – da sie meist von Praxis unbefleckt sind – keine Ahnung von der praktischen Wirklichkeit der mittelständischen Betriebe.

Welche Maßnahmen der Bundesregierung treffen den Mittelstand besonders?

Hamer: Es waren drei Wünsche, die der Mittelstand schon an die alte Regierung hatte, die nicht erfüllt worden sind:

1.) Man möchte ein einfacheres Steuersystem und eine spürbare Entlastung. Schließlich hat der deutsche Mittelstand – nicht die Kapitalgesellschaften – die höchste Steuerbelastung der Welt! Die Kapitalgesellschaften haben längst das gemacht, was nun auch der Mittelstand machen muß, nämlich "globalisiert" und ihre Gewinne ins Ausland geschickt! Steuerliche Entlastung ist deshalb vor allem für den Mittelstand eine Kernfrage. Die alte Regierung hat bisher stets beim Mittelstand gegenfinanziert, was den Konzernen an Geschenken gegeben worden ist.

2.) Reform des Sozialstaates, Senkung der Lohnnebenkosten. Auch hier hat die alte Regierung versagt: Sie hat die Lohnzusatzkosten nicht gesenkt, sondern immer erhöht. Auch dabei hat die Zeche vor allem der Mittelstand gezahlt, da er weniger stark rationalisieren kann als die Großindustrie. Wer 80 % der Arbeitnehmer unserer Wirtschaft beschäftigt, ist eben Hauptlastträger unserer Soziallasten. Aber leider tut sich auch unter Schröder hier nichts wesentlich Neues.

3.) Der Mittelstand hat immer über Kriminalität und Überfremdung geklagt. Die Konzernbosse können sich abschirmen, der Mittelstand lebt aber im Volk. Bei zehn Prozent Ausländern in Deutschland ist dessen Situation gefährlich. Ganze Branchen des Mittelstandes sind inzwischen von organisierter Kriminalität bedroht, wie Gastronomie und Speditionsgewerbe. Diese Situation ist von der alten Regierung ausgeblendet, verharmlost und nicht gelöst worden. Nun will die neue Regierung dieses Problem gegen die Interessen des Volkes – nicht nur des Mittelstandes, sondern auch der Arbeiter – dadurch zementieren, daß sie sich durch Discountverteilung des Staatsbürgerrechtes vier Millionen neue Wähler schafft. das zementiert zwar auf Dauer sozialistische Mehrheiten, kostet aber ungeheure Dauer-Sozialansprüche zu Lasten des Mittelstandes und der Erwerbstätigen. Damit treibt diese Regierung den Mittelstand aus dem Land – mit seinem Kapital, seinen Investitionen – und läßt dafür Ausländer rein. Dieser Punkt ist irreversibel!

Dagegen gibt es keine Aussichten, daß die neue Regierung entlastet. Im Gegenteil, sie droht weitere Mittelstandslasten an. Beispiel: 620-Mark-Kräfte. Hier plant die Regierung die volle soziale Besteuerung. Nach unseren aktuellen Befragungen würden dann zwei Drittel dieser Leute nicht mehr beschäftigt – höchstens schwarz. Sie können sich denken, was dies bei 5,5 Millionen Beschäftigten in diesem Sektor bedeutet. Für manche Branchen – z. B. die Gastronomie – ist dies eine Katastrophe.

Welche Maßnahmen der neuen Regierung treffen nun den Mittelstand konkret besonders empfindlich?

Hamer: Die Einschränkungen bei Denkmals-Abschreibungen beispielsweise. Das ist Existenz für zigtausende von Baubetrieben. Wenn die Abschreibungen sinken, werden viele Bauherren nicht mehr bauen.

Welche Bedeutung hat die Abschaffung des Verlustrücktrages für die mittelständischen Firmen?

Hamer: Wenn jemand vor zwei Jahren große Gewinne hatte, und er hat jetzt Verluste, dann kann er die Verluste auf frühere Jahre verrechnen. Das bedeutet, daß sein Spitzensteuersatz sinkt. Abschaffung des Verlustrücktrages ist insofern Steuererhöhung.

Zentrale Mittelstands-Forderung aller Mittelstandsverbände ist eine Betriebssteuer. Das heißt, daß die Steuern des Betriebes extra berechnet werden und nicht bei Personalfirmen steuerlich der Betriebsgewinn als Privateinkommen angesehen wird. Gewinne des Betriebes müssen für den Betrieb bleiben können, nur dann können Inhaberbetriebe wachsen und Arbeitsplätze schaffen. Ein Mittelständler will ja Gewinn nicht rausnehmen, sondern im Betrieb lassen. Er will kein Shareholder Value, sondern seinen Betrieb stark machen.

Wie werden denn die Unternehmer reagieren?

Hamer: Wenn die Sozialkosten weiter steigen, dann muß man Mitarbeiter freisetzen. Wenn die Kriminalität steigt, dann muß man in ein sichereres Land gehen. Wenn man hier zu hoch besteuert wird, dann werden eine ganze Menge mittelstädnischer Betriebe das machen, was bereits die Großkonzerne vorexerzieren: eine Holdinggesellschaft ins Ausland verlegen. Das ist der Schreinemakers-Effekt. Wir müssen leider dann als Mittelstandsinstitut den Unternehmern Ratschläge geben, die unserem Land als ganzem schädlich sind – aber so die Unternehmer schließlich überleben lassen.

Welche Maßnahmen sind denn überfällig?

Hamer: Das Sozialsystem muß schrittweise vom Umlagesystem auf das Kapitaldeckungsverfahren umgestellt werden. Wir müßten im Steuersystem das machen, was Ludwig Erhard predigte: Die besten Betriebe sollen am meisten wachsen. Also die Gewinne in den Betrieben belassen und nur das besteuern, was rausgenommen wird. Schließlich zur Inneren Sicherheit: Welche Aufgabe hat der Staat? Nicht die, Knöllchen zu schreiben, sondern die Leute zu schützen! Bestimmte Branchen sind längst ohne Schutz und dadurch in Existenznot.

Wer hat in der neuen Bundesregierung wirtschaftspolitisch die Hosen an: Schröder oder Lafontaine?

Hamer: Lafontaine hat sicherlich die Hosen an, aber versteht nichts von Wirtschaft. Schröder ist in wirtschaftlichen Dingen zumindest zugänglich, ist aber bisher gesteuert von einem Großunternehmen – VW, sein Vorzeigeunternehmen. Stollmann ist wieder verschwunden und durch einen Konzernbeamten ersetzt. Wie weit Schröder wirklich Mittelstandspolitik durchsetzen will, ist nicht abzusehen. Wenn er es nicht tut, wird er ebenso wieder abgewählt werden wie Kohl.



Prof. Dr. Eberhard Hamer

wurde 1932 in Mettmann geboren. Nach dem Abitur studierte er Volkswirtschaft, Jura und Theologie. Seit 1976 ist der Rechtsanwalt wissenschaftlicher Leiter des von ihm gegründeten Mittelstandinstitutes Niedersachsen in Hannover. Bis 1994 lehrte Eberhard Hamer zudem als Professor für Wirtschafts- und Finanzpolitik an der Fachhochschule für Wirtschaft in Bielefeld.


 
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